Ökonomische Gewalt bleibt bislang oft unerkannt

Fast ein Drittel aller Frauen in Deutschland erlebt mindestens einmal im Leben Gewalt in der Partnerschaft: psychische, körperliche, sexuelle oder ökonomische. Warum wir so wenig über manche Gewaltformen wissen und was erforderlich ist, um Frauen besser schützen zu können – darüber spricht DJI-Familienökonomin Christina Boll im Interview. Am 16. Oktober diskutiert sie das Thema außerdem mit weiteren Expert:innen im Hertie School Forum in Berlin (siehe Infobox).

DJI Redaktion: Wie verbreitet ist häusliche Gewalt bzw. Partner­schaftsgewalt in Deutschland?

PD Dr. Christina Boll: Im Durchschnitt erleben in Deutschland pro Tag 367 Frauen und Mädchen Partnerschaftsgewalt. Dies entspricht 79 Prozent aller Personen, die von Gewalt in ihrer Partnerschaft betroffen sind. Diese Zahlen berichtet das Deutsche Institut für Menschenrechte auf Basis der polizeilichen Kriminalstatistik 2023. Allerdings wird nur ein Teil der erlebten Gewalt angezeigt. So zeigen Frauen beispielsweise nur jede zehnte gegen sie gerichtete Straftat im Bereich von sexuellem Missbrauch oder Vergewaltigung an. Die Dunkelziffer liegt daher vermutlich weit höher. Dunkelfeldstudien, die potenziell Betroffene befragen, werden nicht regelmäßig und mit teils abweichender Erhebungsmethodik durchgeführt. Sie sind deshalb nicht unmittelbar mit Hellfeldstudien vergleichbar. Und noch eine Zahl zur häuslichen Gewalt: Eine von Eurostat, dem Statistikamt der Europäischen Union, unter allen 27 EU-Mitgliedsstaaten durchgeführte Befragung zu geschlechtsspezifischer Gewalt im Jahr 2021 ergab, dass fast ein Drittel (31,9 Prozent) der befragten Frauen in Deutschland irgendwann im Leben mindestens einmal häusliche Gewalt erlebt hat – dazu zählt psychologische, ökonomische, physische und sexualisierte Gewalt; 5 Prozent der Frauen hatten diese in den letzten 12 Monaten vor der Befragung erlebt. 
 

Hertie School of Governance, Einstein Center for Population Diversity, DJI

Public Event: Intimate Partner Violence - Data Challenges and Policy Solutions

16. Oktober 2025, 18 – 21 Uhr, Hertie School Forum, Berlin

Zu Programm und Anmeldung

Welche zentralen Risikofaktoren gibt es für Frauen?

Empirisch einschlägige Risikofaktoren sind ein niedriger sozio­ökonomischer Status, ausgedrückt durch niedrige Bildung, einen geringen Erwerbsumfang oder ein geringes Einkommen, aber auch weitere Benachteiligungen wie beispielsweise eine Behinderung. Neben individuellen Faktoren der Frauen spielen natürlich auch Partner- und Partnerschaftsmerkmale eine Rolle: Ein hohes Konfliktpotenzial in der Partnerschaft, Alkohol- und Drogenkonsum sowie gesundheitliche oder psychische Probleme beim Partner sind Stressoren. Und auch das soziale Umfeld kann das Risiko für Partnerschaftsgewalt erhöhen, wenn dort zum Beispiel eine hohe Gewaltbereitschaft oder sehr traditionelle Geschlechterrollen vorherrschen. Generell ist festzuhalten: Nicht ein Faktor allein, sondern eine Kombination von Risiken ist ursächlich. Und auch Schutzfaktoren sind wichtig: Eine hohe soziale Unterstützung, beispielsweise durch Freunde oder weitere Familienangehörige, kann auch bei vorliegenden Risikofaktoren verhindern, dass aus Gewaltbereitschaft tatsächlich Gewalt wird. 

Für Männer mit egalitären Geschlechterrolleneinstellungen stellt eine ökonomische Überlegenheit der Partnerin keine Bedrohung der eigenen männlichen Identität dar.

Welche Rolle spielen Einkommens­unterschiede in der Partnerschaft beim Risiko für körperliche Gewalt an Frauen?

Hierzu gibt es zunächst widersprüchlich scheinende empirische Evidenz: Einerseits steigern niedrige ökonomische Ressourcen einer Frau, wozu auch ihr eigenes Einkommen zählt, ihre wirtschaftliche Abhängigkeit vom Partner. Die fehlenden Möglichkeiten, die Partnerschaft zu verlassen, können mit einem erhöhten Risiko einhergehen, Gewalt ausgesetzt zu sein. Ist die Frau allerdings ihrem Partner im Einkommen überlegen, kann Gewalt von diesem auch als Instrument eingesetzt werden, um seine Machtposition wiederzuerlangen und die eigenen Interessen durchzusetzen. Zentral ist aber auch hier die „Exit“-Option: Hat die Frau die Möglichkeit, sich der potenziell oder faktisch gewalttätigen Person tatsächlich zu entziehen, läuft dieser Kontrollversuch ins Leere. Es genügt dafür nicht, dass der Ausweg rechtlich möglich ist; er kann trotzdem de facto versperrt sein, etwa durch gesellschaftliche Vorurteile gegenüber Getrennten, Geschiedenen oder alleinlebenden Frauen. Zudem hat eine US-amerikanische Studie von Atkinson, Greenstein und Langaus dem Jahr 2005 gezeigt, dass der Einsatz von Gewalt bei ökonomischer Überlegenheit der Frau an die weitere Voraussetzung eines traditionellen Rollenbilds des gewaltausübenden Partners gebunden ist. Denn für Männer mit egalitären Geschlechterrolleneinstellungen stellt eine ökonomische Überlegenheit der Partnerin keine Bedrohung der eigenen männlichen Identität dar. Man kann daher keinesfalls allein aus strukturellen Faktoren, wie dem Vorliegen ökonomischer Abhängigkeiten, auf die Ausübung von Gewalt in der Partnerschaft schließen. Um häusliche Gewaltprozesse zu verstehen, müssen weitere, insbesondere auch kulturell-normative Faktoren, berücksichtigt werden.

PD Dr. habil. Christina Boll  leitet die Abteilung „Familie und Familienpolitik“ am Deutschen Jugendinstitut (DJI). Ihre Forschungs­schwerpunkte liegen an den Schnittstellen von Familie und Arbeits­markt im Lebens­verlauf. Sie ist unter anderem Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen beim Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMBFSFJ).

Eine weitere und vielfach vernachlässigte Form der Gewalt in Partnerschaftsbeziehungen ist ökonomische Gewalt. Was wird darunter verstanden?

Ökonomische Gewalt wird nach der statistischen Definition des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen (EIGE) bezeichnet als Handeln, dass Anderen wirtschaftlichen Schaden zufügt und unterteilt in ökonomische Kontrolle, ökonomischen Missbrauch und ökonomische Sabotage. Ökonomische Kontrolle umfasst alle Handlungen zum Zwecke der Verhinderung, Begrenzung und Überwachung finanzieller Entscheidungen einer Person, beispiels­weise Ausgaben zu kontrollieren oder den Zugang zu Bargeld oder Bankkonten zu verwehren. Ökonomischer Missbrauch liegt vor, wenn die ökonomischen Ressourcen einer anderen Person für eigene Zwecke missbraucht werden, etwa bei Diebstahl oder Zerstörung von Eigentum oder Kreditaufnahmen in fremdem Namen. Ökonomische Sabotage bedeutet beispielsweise, dass das Aufnehmen, Beibehalten oder Ausweiten einer Ausbildung oder Erwerbstätigkeit verhindert wird. Formen ökonomischer Gewalt gehen oft mit anderen Formen häuslicher Gewalt einher und können auch nach einer beendeten Partnerschaft fortdauern – zum Beispiel, wenn ein Partner den geschuldeten Unterhalt nicht zahlt oder den anderen fortdauernd in kostspielige Rechtsstreitigkeiten hineinzieht. 

Ökonomische Gewalt ist statistisch bislang stark untererfasst - nicht nur bezüglich des tatsächlichen Aufkommens, sondern auch in ihren Formen.

Trifft ökonomische Gewalt vorwiegend Frauen, die finanziell vom Partner abhängig sind? 

Ökonomische Gewalt kann die Ursache finanzieller Abhängigkeiten vom Partner sein – etwa, wenn von ihm eine Erwerbsaufnahme sabotiert wird. Auch ökonomische Kontrolle erleben Personen in einer schwächeren ökonomischen Position – wenig überraschend – häufiger als ökonomisch autonome. Ökonomische Gewalt kann aber auch Folge finanzieller Stärke sein: Oft erleben gerade ressourcenreiche Frauen ökonomischen Missbrauch. Bestehen jenseits ökonomischer Abhängigkeit andere Faktoren, die diese Frauen in ihrer Partnerschaft halten, scheuen sie möglicherweise, die Taten offenzulegen und zur Anzeige zu bringen. 

Zusätzlich, und eine Folge aus Letzterem, ist ökonomische Gewalt statistisch bislang – nicht nur bezüglich des tatsächlichen Aufkommens, sondern auch in ihren Formen – stark untererfasst: Es gibt lediglich Daten zu Unterhaltspflichtverletzungen im BKA Bundeslagebild zur häuslichen Gewalt. Um das Ausmaß ökonomischer Gewalt realistisch abschätzen zu können, sind auch hier regelmäßige, repräsentative Dunkelfeldbefragungen nötig. 

Was lässt sich über die Häufigkeit von ökonomischer Gewalt bei Frauen sagen? 

Laut einer im Jahr 2012 durchgeführten repräsentativen Befragung der EU-Grundrechteagentur (FRA) haben EU-weit rund 11 Prozent der Frauen in einer vergangenen oder in der aktuellen Partnerschaft ökonomische Kontrolle oder Sabotage erfahren. Und da ökonomischer Missbrauch nicht erfragt wurde, liegt der Anteil vermutlich höher. Für Deutschland ermittelten Stöckl und Penhale (2015) einen Anteil von 12 Prozent der 16- bis 49-jährigen Frauen, die ökonomische Gewalt in ihrer laufenden Partnerschaft erlebt hatten. Jud und Kollegen ermittelten 2020 einen Anteil von 10 Prozent. Ergebnisse der gemeinsam vom Bundeskriminalamt, dem Bundesinnen- und dem Bundesfamilienministerium von Juli 2023 bis Januar 2025 durchgeführten Dunkelfeldbefragung „Lebenssituation, Sicherheit und Belastung im Alltag (LeSuBiA)“, die nach unserem Kenntnisstand auch Fragen zu ökonomischer Gewalt enthält, stehen noch aus und sollen noch in diesem Jahr veröffentlicht werden. 

Die genannten Querschnittstudien erlauben es allerdings ohnehin nur begrenzt, die Ursachen und Folgen von Gewalt zu erforschen. Und die einschlägigen deutschen Panelstudien erheben häusliche Gewalt – wenn überhaupt – nur sehr grob und ökonomische Gewalt gar nicht. Dies wird sich bald ändern: In der sechsten Befragungswelle des familiendemographischen Panels FReDA (Family Research and Demographic Analysis) wird im Jahr 2026 ein Modul zu ökonomischer Gewalt ins Feld gehen. Dieses wird es ermöglichen, sowohl das komplexe Ursachengefüge dieser Gewaltform als auch ihre Konsequenzen für individuelles und familiales Wohlergehen und Zusammenhänge zu anderen Gewaltformen näher zu beleuchten.  Denn eine belastbare statistische Grundlage ist Voraussetzung für effektive politische Maßnahmen zu häuslicher Gewalt.

Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, die frühzeitig und effektiv der Entstehung wirtschaftlicher Abhängigkeitsverhältnisse in Partnerschaften vorbeugen.

Was muss getan werden, um Frauen besser zu schützen?

Anfang 2025 wurden mit der Verabschiedung des Gewalthilfegesetzes und einer Änderung des Gewaltschutzgesetzes wesentliche Fortschritte im Bereich des Opferschutzes erzielt. Die Regelungen müssen jetzt aber trotz knapper öffentlicher Kassen konsequent umgesetzt und mit effektiver Prävention verbunden werden. 

Im Bereich ökonomischer Gewalt bedeutet Prävention, dass Maßnahmen ergriffen werden, die frühzeitig und effektiv der Entstehung wirtschaftlicher Abhängigkeitsverhältnisse in Partnerschaften vorbeugen. Ein Baustein hierfür ist eine ausreichende Arbeitsmarkteinbindung – hier sind die Frauen selbst gefordert, aber Politik muss auch die notwendigen Infrastrukturen bereitstellen – zum Beispiel in Form bedarfsdeckender Kitaplätze. Die hohen individuellen und gesellschaftlichen Kosten häuslicher Gewalt machen es notwendig, den Blick zu weiten: Alle Formen häuslicher Gewalt sollten in ihren Wechselwirkungen gesehen und  statistisch erfasst werden, um ihnen in geeigneter Form politisch begegnen zu können.

Vielen Dank für das Gespräch!

Interview: Uta Hofele