Religion und islamistischer Extremismus

Rechtspopulistische Pauschalisierungen verklären „den Islam“ als Ursache von islamistischer, extremistischer Gewalt. Die pädagogische Fachpraxis sieht in Religion eine Chance der Extremismusprävention. Jetzt liegen neue Forschungsergebnisse und Einblicke in die Praxis vor.

Von Joachim Langner

In den vergangenen Jahren wurden junge Menschen und pädagogische Fachkräfte verstärkt mit islamistischem Extremismus konfrontiert, am deutlichsten in der Hochphase von islamistischen Anschlägen und Ausreisen junger Menschen in den Jahren 2014-2017 in den sogenannten „Islamischen Staat“. Auch wenn sich das Phänomen des islamistischen Extremismus immer wieder stark verändert hat, und aktuell weniger Ausreisende als Rückkehrende und in verschiedene Deutschland verwurzelte Organisationen in der Diskussion stehen, bleibt es für junge Menschen mit seinen ideologischen Versprechungen und gruppendynamischen Angeboten präsent als ein attraktiver Weg aus biografischen und familialen Krisen.

Seit dieser Zeit haben sich vielfältige pädagogische Angebote etabliert, die junge Menschen gegen Radikalisierungsgefährdungen stärken oder sie darin unterstützen, sich von islamistisch-extremistischen Gruppen und Ideologien abzulösen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie pädagogisch Arbeitende setzen sich in der Praxis mit der Rolle der Religion im Zusammenhang mit Hinwendungs- und Radikalisierungsprozessen und vielen weiteren Fragen auseinander, beispielsweise: Wie agieren diese Angebote in religiösen Kontexten? Wann spielt Religion eine Rolle? Und inwieweit binden sie selbst Religion in ihre pädagogische Arbeit ein? Die Frage nach der Gewichtung von Religion – und spezifischer dem Islam – in dieser Präventions- und Deradikalisierungsarbeit ist dabei immer wieder Anlass kontroverser Debatten.

Viele islamistisch Radikalisierte kommen nicht aus religiösen Elternhäusern und können religiöse Zusammenhänge vergleichsweise schlecht einordnen

Religion in der Extremismusforschung

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Deutschen Jugendinstitut (DJI) beschäftigen sich in der Arbeits- und Forschungsstelle Demokratieförderung und Extremismusprävention (AFS) sowie in der Programmevaluation des Bundesprogrammes „Demokratie Leben!“ mit der Rolle von Religion in der Hinwendung und Radikalisierung junger Menschen zum islamistischen Extremismus. Sie erforschten etwa, wie die pädagogische Fachpraxis in der Präventions- und Distanzierungsarbeit mit dem Phänomen Religion umgeht. In diesen Projekten interviewten sie pädagogische Fachkräfte, analysierten deren Vorgehensweisen und Erfahrungen, rekonstruierten die Handlungslogiken der Angebote und reflektierten fachliche Vorannahmen. Auch junge Menschen und ihre Nächsten wurden nach persönlichen Erlebnissen bei ihrer Hinwendung zum islamistischen Extremismus befragt.

Jugendliche, Religion und Radikalisierung

Ist Religion eine Ursache für Radikalisierung?
Welche Rolle spielt Religion, wenn sich junge Menschen zum islamistischen Extremismus bekennen? Dieses Forschungsfeld bearbeiten die DJI-Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Joachim Langner, Björn Milbradt, Sally Hohnstein und Maruta Herding. Die Forschungsliteratur zeigt auf, dass Religion nur ein Aspekt unter vielen unterschiedlichen Faktoren, Motiven, Hintergründen und Erfahrungen ist, die diese Prozesse befördern. Autorinnen und Autoren belegen, dass viele islamistisch Radikalisierte nicht aus religiösen Elternhäusern kommen und damit religiöse Zusammenhänge vergleichsweise schlecht einordnen können. Insgesamt legen die Forschungsbefunde nahe, dass Religion eher als verstärkender denn als ursächlicher Faktor zu werten ist. Nicht selten kann die Hinwendung aber religiöse Antworten auf Krisenerlebnisse und Sinnsuchen bieten.

Familie, Religion und Radikalisierung?
Biografische Krisen gelten in der Radikalisierungsforschung als einer der Gründe für Hinwendungsprozesse zum islamistischen Extremismus. Dabei liegen jedoch, wie die Wissenschaftliche Referentin Anna Scholz herausstellt, zum Thema familiale Krisen als Ursache für die Radikalisierung bisher kaum Forschungsergebnisse vor. Doch können gerade familiale Krisen, deren Bearbeitung scheitert, zu einer Radikalisierung führen. Beobachtungen zeigen, dass das Zusammenwirken familialer und biografischer Krisen das Verhalten von Jugendlichen verändern kann. Denn in dieser Situation suchen junge Menschen nach einer neuen Orientierung. Die mit Krisen und Konflikten einhergehenden Dynamiken können den Veränderungswunsch und Schritt in neue Richtungen begründen sie erklären jedoch nicht die Zuwendung zu einer bestimmten Orientierung, beispielsweise zur Religion oder religiösen Radikalisierung.

Biografie, Religion und Radikalisierung?
Doch welche Rolle spielt Religion in der Hinwendung junger Menschen zu radikalen, totalisierenden Islamauslegungen? Welchen subjektiven Sinn sehen Jugendliche, die sich entsprechenden Strömungen zuwenden, in den radikal-islamische Deutungsmustern und Vergemeinschaftungsformen? Die Forscherinnen Anja Frank und Michaela Glaser bieten in ihrem Beitrag eine Erklärung: So könnten Schwierigkeiten im Leben als „Prüfungen Gottes“ interpretiert und Grenzen vor allem zur Familie symbolisch markiert werden. Auf diese Weise gewinnen die jungen Menschen neue Perspektiven der Lebensgestaltung und Selbstdefinition. Doch warum sind gerade salafistische Angebote interessant? Die Jugendlichen lösen sich von ihren Eltern ab und entwickeln in dieser Phase eine eigene Vorstellung von ihrem Lebensweg. In diesem Zeitraum kann Religion, beispielsweise der Islam, eine Hilfestellung geben. Doch spielen nicht bestimmte Inhalte und Eigenschaften eines vermeintlichen Wesens „des“ Islam bei der Hinwendung zum islamistischen Extremismus eine Rolle, sondern individuell damit konnotierten Elemente.

 

Forschungsschwerpunkt am DJI in Halle

Am Deutschen Jugendinstitut (DJI) in Halle (Saale) arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Fachgruppe „Politische Sozialisation und Demokratieförderung“ an den Forschungsthemen Demokratieförderung, Radikalisierungsprävention und Prozessen politischer Sozialisation. Dazu gehört beispielsweise die Programmevaluation und wissenschaftliche Begleitung des Bundesprogramms „Demokratie leben!“. Die Programmevaluation untersucht, wie sich das Programm und seine einzelnen Bereiche entwickeln, auf welche organisatorischen, pädagogischen und gesellschaftlichen Herausforderungen die Programmakteure treffen, wie sie damit umgehen, und welche Resonanzen Programmakteure erzeugen. In der DJI-Außenstelle in Halle ist auch die „Arbeits- und Forschungsstelle Demokratieförderung und Extremismusprävention“ (AFS) angesiedelt. Hier werden mit den Mitteln qualitativer SozialforschungProzesse politischer Sozialisation bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, sowie Umgangs- und Handlungsweisen pädagogischer Fachpraxis in den Themenfeldern Demokratieförderung und Extremismusprävention erforscht und in praxisrelevantes Wissen überführt.

Pädagogische Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus

Religion in der Distanzierungsarbeit
Joachim Langner, Maruta Herding und Felix Pausch zeigen in Ihrer Analyse auf, dass Religion ein zentrales Thema in der pädagogischen Distanzierungsarbeit ist. Seit etwa zehn Jahren hat sich in Deutschland eine pädagogische Praxislandschaft entwickelt, die junge Menschen bei der sozialen und ideologischen Distanzierung vom gewaltorientierten Islamismus unterstützt. Die Pädagoginnen und Pädagogen gehen dabei unterschiedlich auf das Thema Religion ein. In ihren Projekten konzentrieren sie sich entweder auf die Bearbeitung sozialer Problemlagen oder religionsbezogene Arbeit. Sie wägen ab, welchen Stellenwert Religion in der jeweils individuellen Radikalisierungsgeschichte und generell in der Lebenswelt der Projektteilnehmenden hat. Bei jungen Frauen kann dies etwa der Druck sein, innerhalb der Szene heiraten zu müssen, bei jungen Männern, das Verbot mit der christlichen Mutter Kontakt zu halten. Eine reine Bearbeitung der vordergründig religiös geprägten Konfliktlagen kann zwar der Ausgangspunkt der Beratung sein, muss aber deutlich darüber hinausgehen. Für pädagogische Fachkräfte ist es dabei wichtig, die eigene Rolle, das bedeutet das Muslim-/Nichtmuslimsein zu reflektieren.

Religion in der Radikalisierungsprävention
Joachim Langner stellt in seinem Beitrag dar, dass Religion als Ausgangspunkt der pädagogischen Arbeit als Ressource bei der Radikalisierungsprävention dienen kann. In Modellprojekten des Bundesprogramms „Demokratie leben!“, die sich mit demokratiefeindlichem und gewaltorientiertem Islamismus auseinandersetzen, zeigt sich Religion als wichtige Ebene dieser Arbeit. Die Projekte gehen jedoch mit dem Thema Religion, in diesem Zusammenhang mit dem Islam, unterschiedlich um. Der Islam kann in der Arbeit mit den jungen Menschen ein zentrales Element der präventiven Maßnahmen einnehmen oder ist lediglich eines von vielen Themen bei der Betrachtung der jeweiligen Erfahrungshintergründe. Immer spielt Religion jedoch in der inhaltlichen Auseinandersetzung mit extremistischer Ideologie und in der Stärkung der Eigenposition der Projekt-Teilnehmenden eine Rolle. Da die Gründe und Motivationen für islamistische Radikalisierung vielfältig sind, erscheint es sinnvoll, die pädagogischen Antworten darauf ebenso vielfältig und individuell anzupassen.

Religion in Fortbildungen für JVA-Bedienstete
Die DJI-Forscherinnen Nadine Jukschat, Maria Jakob und Maruta Herding weisen darauf hin, dass auch in Justizvollzugsanstalten Themen wie Extremismus und Islamismus eine Rolle spielen. In Fortbildungen sollen JVA-Bediensteten Wissen und Handlungsweisen hierzu vermittelt werden. Untersuchungen zeigen, dass hier auch der Islam als Religion besprochen wird. So werden die Teilnehmenden für muslimische Praxen sensibilisiert und erhalten Wissen über die Unterschiede zwischen Islam und Islamismus. Das vermittelte Wissen regt einen souveränen Umgang mit dem Islam an und hilft den Umgang mit Muslimen in Haft konfliktfreier zu gestalten. Wenig berücksichtigt wird in den Fortbildungen jedoch bisher die spezifische Funktion von Religion bei der Resozialisierung. Außerdem wird Religion bisher nur selten als Hilfe für Gefangene angesehen, ihre Situation erträglicher zu gestalten.

Die ausführlichen Beiträge der hier zusammengefassten Forschung aus dem DJI sowie weitere relevante wissenschaftliche Aufsätze finden Sie im Band 14 der Schriftenreihe der Arbeits- und Forschungsstelle Demokratieförderung und Extremismusprävention am DJI.

 

Kontakt

Pamela Geißler
Arbeits- und Forschungsstelle Demokratieförderung und Extremismusprävention
geissler@dji.de

Marion Horn
Abteilung Medien und Kommunikation
horn@dji.de

Langner, Joachim/ Herding, Maruta/ Hohnstein, Sally/ Milbradt, Björn (Hrsg.) (2020): Religion in der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischen Extremismus. Reihe: Publikationen der AFS. Band 14. Halle (Saale)

Langner, Joachim/ Milbradt, Björn/ Hohnstein, Sally/ Herding, Maruta (2020): Religion in der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus – Phänomene, Kontexte und Spannungsfelder. In: Langner, Joachim/ Herding, Maruta/ Hohnstein, Sally/ Milbradt, Björn (Hrsg.) (2020): Religion in der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischen Extremismus. Reihe: Publikationen der AFS. Band 14. Halle (Saale), S. 6-31.

Scholz/ Anna Felicitas (2020): Religiosität und Familie im frühen Hinwendungsprozess zum gewaltorientierten Islamismus – Rekonstruktionen biografischer Erzählungen. In: Langner, Joachim/ Herding, Maruta/ Hohnstein, Sally/ Milbradt, Björn (Hrsg.) (2020): Religion in der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischen Extremismus. Reihe: Publikationen der AFS. Band 14. Halle (Saale), S. 34-53.

Frank, Anja/ Glaser, Michaela (2020): „Ich hab’ einen Standpunkt, das ist der Islam“. Zur biografischen Bedeutung und Funktion totalisierender Islamauslegungen. In: Langner, Joachim/ Herding, Maruta/ Hohnstein, Sally/ Milbradt, Björn (Hrsg.) (2020): Religion in der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischen Extremismus. Reihe: Publikationen der AFS. Band 14. Halle (Saale), S. 54-74

Kiefer, Michael (2020): Religion in der Radikalisierung. In: Langner, Joachim/ Herding, Maruta/ Hohnstein, Sally/ Milbradt, Björn (Hrsg.) (2020): Religion in der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischen Extremismus. Reihe: Publikationen der AFS. Band 14. Halle (Saale), S. 75-94.

Knauth, Thorsten (2020): Dialogisches religionsbezogenes Lernen als Beitrag zur Radikalisierungsprävention? Ansätze der pädagogischen Bearbeitung religiöser Normenkonflikte in der Schule. In: Langner, Joachim/ Herding, Maruta/ Hohnstein, Sally/ Milbradt, Björn (Hrsg.) (2020): Religion in der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischen Extremismus. Reihe: Publikationen der AFS. Band 14. Halle (Saale), S. 98- 122.

Langner, Joachim/ Herding, Maruta/ Pausch, Felix (2020): „Klar ist das Thema“ – Religion in der Distanzierungsarbeit im Handlungsfeld des gewaltorientierten Islamismus. In: Langner, Joachim/ Herding, Maruta/ Hohnstein, Sally/ Milbradt, Björn (Hrsg.) (2020): Religion in der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischen Extremismus. Reihe: Publikationen der AFS. Band 14. Halle (Saale), S. 126-159.

Langner, Joachim (2020): Religion als Ressource in der Radikalisierungsprävention?. In: Langner, Joachim/ Herding, Maruta/ Hohnstein, Sally/ Milbradt, Björn (Hrsg.) (2020): Religion in der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischen Extremismus. Reihe: Publikationen der AFS. Band 14. Halle (Saale), S. 160-185.

Jukschat, Nadine/ Jakob, Maria/ Herding, Maruta (2020): „Was ist denn, wenn einer sagt ‚Allahu Akbar‘?“ – Wie Islam in Fortbildungen für JVA-Bedienstete verhandelt wird. In: Langner, Joachim/ Herding, Maruta/ Hohnstein, Sally/ Milbradt, Björn (Hrsg.) (2020): Religion in der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischen Extremismus. Reihe: Publikationen der AFS. Band 14. Halle (Saale), S. 186-209.

Uhlmann, Milena (2020): Die Rolle von Religion im gewaltorientierten islamistischen Extremismus – Ein Essay zur gesellschaftlichen Situation in Frankreich. In: Langner, Joachim/ Herding, Maruta/ Hohnstein, Sally/ Milbradt, Björn (Hrsg.) (2020): Religion in der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischen Extremismus. Reihe: Publikationen der AFS. Band 14. Halle (Saale), S. 210-219.

Download

Joachim Langner, Maruta Herding, Sally Hohnstein und Björn Milbradt (Hrsg.), Religion in der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus, Schriftenreihe der Arbeits- und Forschungsstelle Demokratieförderung und Extremismusprävention (AFS) Band 14, 2020. 223 Seiten, ISBN 978-3-86379-321-0