„Es herrscht breiter politischer Konsens, dass Kinderarmut bekämpft werden muss“

Die Möglichkeiten der Eltern entscheiden in Deutschland darüber, wie erfolgreich Kinder ins Leben starten. Sozial schwache Familien geraten dabei schnell an ihre Grenzen. Die profilierte Familienpolitikexpertin Petra Mackroth über wirksame Instrumente gegen Kinderarmut und politische Konsequenzen aus dem Neunten Familienbericht.

DJI Impulse: Frau Mackroth, das Familienministerium rückte im Neunten Familienbericht explizit die Elternschaft in den Fokus. Warum?
Petra Mackroth: Dazu muss ich kurz ausholen: Wir haben in den letzten Jahren an den Voraussetzungen der partnerschaftlichen Erwerbstätigkeit von Müttern und Vätern – der besseren Vereinbarkeit – gearbeitet. Die Bedingungen wurden durch zahlreiche finanzstarke Maßnahmen verbessert, beispielsweise durch das Elterngeld. Außerdem haben wir zusammen mit der Wirtschaft die Familienfreundlichkeit in den Unternehmen gesteigert. Und es gab messbare Erfolge! Die Müttererwerbstätigkeit stieg, weil viele Frauen gerne mehr arbeiten wollten. Väter kümmerten sich mehr um ihre Kinder, was auch ihr Wunsch war. Insgesamt wurde mehr Partnerschaftlichkeit möglich.

Es klingt, als käme gleich ein „Aber“ …
Ja. Denn zugleich haben wir in begleitenden Studien festgestellt, dass die Eltern sich zunehmend unter Druck fühlen bei der Erziehung und Förderung ihrer Kinder. Und eine wahrnehmbare und größer werdende Gruppe von Eltern kann nicht mehr Schritt halten – weil sie über weniger Ressourcen verfügt. Deutschland ist ja leider bekannt dafür, dass die Chancen von Kindern maßgeblich von den Möglichkeiten der Eltern abhängen. Deswegen haben wir im Familienbericht diesmal die Eltern als Akteure in den Blick genommen.

Die Kindergrundsicherung muss auf zwei Säulen ruhen: Auf der einen Seite braucht es mehr Infrastrukturangebote im Bereich Bildung, Förderung und soziales Leben, die allen Kindern offenstehen. Auf der anderen Seite müssen Familien mit wenig Einkommen zusätzliches Geld erhalten.


Petra Mackroth, langjährige Leiterin der Abteilung Familie am Bundesfamilienministerium, prägte im Hintergrund die Familienpolitik der vergangenen Jahre mit. Foto: Yves Sucksdorf

Wo kommt der Druck her, den viele Eltern artikulieren?
Im Vergleich zu früheren Generationen haben sich die Ideale der Erziehung und Förderung verändert. Die Bedeutung von Bildung ist insgesamt gewachsen, Eltern fördern ihre Kinder heute früher und intensiver. Außerdem führt die doppelte Erwerbstätigkeit dazu, dass sich die Organisation in den Familien verändern muss. All das ist anstrengend und kräftezehrend. Paradoxerweise haben Eltern statistisch gesehen immer mehr Zeit für ihre Kinder. Trotzdem steigt gesamtgesellschaftlich das Gefühl, den Anforderungen nicht zu genügen. Der Familienbericht bezieht hier übrigens sehr klar Stellung: Um den Druck zu mildern, brauchen Eltern dringend Verantwortungspartnerschaften, beispielsweise mit den Schulen und den Kindertageseinrichtungen. Auf gar keinen Fall darf die große Aufgabe, Kinder zu fördern oder erfolgreich Bildung zu vermitteln, allein von den Möglichkeiten der Eltern abhängen.  

Sie haben es schon erwähnt: Das Elternhaus entscheidet hierzulande über Bildungschancen. Umso erschreckender, dass nach Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) jeder fünfte Minderjährige von Armut bedroht ist; hauptbetroffen sind Kinder von Alleinerziehenden. Nimmt die Politik dieses Problem bisher nicht ernst genug?
Die Politik war in den vergangenen Jahren keineswegs untätig. Wir haben einiges eingeführt, um gerade die Alleinerziehenden finanziell zu stabilisieren, etwa den Steuerentlastungsbetrag und besonders den verbesserten Unterhaltsvorschuss, der greift, wenn ein Elternteil nicht zahlt. Der Kinderzuschlag wurde reformiert, sodass mittlerweile mehr als 20 Prozent derjenigen, die ihn beziehen, Alleinerziehende sind. Das sind durchaus Erfolge. Aber ich möchte in diesem Zusammenhang eine wichtige Erkenntnis nennen: Alleinerziehende – und wir sprechen hier von 90 Prozent Müttern –, die vor ihrer Trennung ein eigenes und ausreichendes Einkommen hatten und ihre eigenen beruflichen Perspektiven im Blick behielten, diese Alleinerziehenden bewältigen ihren Alltag wesentlich besser als diejenigen, die zuvor gar nicht erwerbstätig waren. Was folgt daraus? Dass wir politisch alles dafür tun sollten, dass beide Elternteile, Mütter und Väter, von Anfang an berufliche Stabilität aufbauen können. Wenn Eltern sich Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung partnerschaftlich teilen, haben sie im Falle einer Trennung gleich gute Ausgangsbedingungen für einen Neuanfang. Und das ist die beste Armutsprävention auch für die Kinder.

Weitere Analysen zum Thema „Ungleiche Elternschaft“ im Forschungsmagazin DJI Impulse

Unter dem Titel „Ungleiche Elternschaft: Warum die soziale Kluft zwischen Familien wächst und was der Neunte Familienbericht empfiehlt“ analysieren in der DJI-Impulse-Ausgabe 1/2022 (Download-PDF) Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus ganz Deutschland aktuelle familienpolitische Herausforderungen. Die Autorinnen und Autoren des Schwerpunkts wirkten beim Neunten Familienbericht mit. In ihren Analysen für das Forschungsmagazin fassen sie nicht nur ausgewählte Befunde des Berichts zusammen, sondern formulieren notwendige gesellschaftliche und politische Konsequenzen. Neben den Fachleuten aus Wissenschaft und Politik kommen in Interviews auch eine Lehrkraft und eine Elternvertreterin einer ausgezeichneten Grundschule in Hessen zu Wort. Sie schildern die Chancen und Herausforderungen einer Erziehungs- und Bildungspartnerschaft.

Insbesondere in Westdeutschland leben viele Paare aber weiterhin ein Ernährermodell mit Vätern in Vollzeit und Müttern in Teilzeit. Corona hat die alten Rollen noch mal betoniert. Warum sind die gesellschaftlichen Strukturen so hartnäckig?
Ich sehe das nicht so pessimistisch. Es hat sich doch viel bewegt in den vergangenen Jahren. Der Anteil der Familien, die nach dem Muster der eigenen Eltern oder Großeltern leben wollen, liegt nur noch bei rund 20 Prozent. Der Wunsch der meisten Mütter und Väter ist es, Elternschaft anders, gleichberechtigter zu gestalten. Und wenn sich den Eltern die Möglichkeiten bieten, tun sie das auch. Während Corona haben Mütter mehr Aufgaben zu Hause übernommen, das stimmt. Aber das war überwiegend in Beziehungen der Fall, in denen die Aufteilung auch vor der Pandemie recht klassisch war. In Familien, in denen es eine einigermaßen gleiche Verteilung von Erwerbstätigkeit und Betreuung gab, hat sich dieser roll back nicht gezeigt. Im Gegenteil: Da gab es eine große Gruppe Väter, die mehr Zeit für die Kinderbetreuung aufgebracht hat. Unsere Studien haben gezeigt, dass der Anteil derjenigen, die „klassischer“ gelebt haben, ebenso groß war, wie der Anteil der Partnerschaftlicheren, etwa 20 Prozent.

Oft zwingen Betreuungsengpässe, Arbeitsmarktstrukturen und finanzielle Gründe Paare dazu, nach der Geburt des ersten Kindes ihre Ideale von Gleichberechtigung über Bord zu werfen. Der Familienbericht schlägt deshalb vor, das Elterngeld zu verändern. Ist diese Empfehlung politisch realisierbar?
Das Elterngeld ist eine riesige staatliche Leistung, mittlerweile rund 7,5 Milliarden Euro schwer. Eine reine Ausweitung halte ich nicht für sinnvoll, es sollte schon mit einer Weichenstellung verbunden sein. Der Familienbericht schlägt vor, mehr Partnerschaftlichkeit im Elterngeldbezug zu belohnen – das finde ich eine sehr gute Idee! Das Ziel sollte sein, so die Empfehlung, mit einem veränderten Elterngeld Anreize zu setzen, damit der Anteil der Väter wächst, die nach der Geburt eines Kindes längere Zeit zu Hause bleiben. Und das ist heute genau die Herausforderung. Aktuell begnügen sich rund Dreiviertel der Väter im Elterngeldbezug mit den zwei Partnermonaten – vielfach auch Vätermonate genannt. Das hat sich gesellschaftlich derart eingebürgert, dass Männer, die bei ihren Arbeitgebern nach einer längeren Elternzeit fragen, oft Unverständnis ernten. Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung klingt jedenfalls eine Reform an: „Wir werden das Elterngeld vereinfachen, digitalisieren und die gemeinschaftliche elterliche Verantwortung stärken“, heißt es da. Und die Partnermonate sollen auf drei Monate angehoben werden.

Als ein Mittel gegen Kinderarmut fordert die Familienberichtskommission außerdem eine Kindergrundsicherung. Auch die steht nun im Koalitionsvertrag. Freut Sie das?  
Dass man es geschafft hat, sich für die Kindergrundsicherung auszusprechen, ist ein großartiger Erfolg! Es herrscht mittlerweile breiter politischer Konsens, dass Kinderarmut bekämpft werden muss. Wir dürfen nicht zuschauen, wie die Probleme noch größer werden. Doch Geld allein wird nicht dazu führen, die Bildungs- und Aufstiegschancen aller Kinder zu verbessern. Die Kindergrundsicherung muss auf zwei Säulen ruhen: Auf der einen Seite braucht es mehr Infrastrukturangebote im Bereich Bildung, Förderung und soziales Leben, die allen Kindern offenstehen. Auf der anderen Seite müssen Familien mit wenig Einkommen zusätzliches Geld erhalten, damit ihre Kinder einen Alltag ohne Not erleben. Ich bin zuversichtlich, dass die Ampelkoalition da auf einen gemeinsamen Nenner kommen wird. Im Familienministerium wird in diversen Runden und mit vielen Expertinnen und Experten ja nicht erst seit gestern über das Thema diskutiert. Dort ist man vorbereitet.

Die Pandemie hat den Bundeshaushalt stark belastet – Ende noch nicht in Sicht. Haben Sie keine Sorge, dass in der Familienpolitik ein Jahrzehnt der Einsparungen droht?
Nein, habe ich nicht. Das Thema Chancengerechtigkeit wird offenbar sehr ernst genommen in der Koalition. Auch die Partnerschaftlichkeit in den Familien will die neue Regierung ausdrücklich befördern. Die wiederum ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass wir bei der beruflichen Gleichstellung von Männern und Frauen vorwärtskommen – und bei der finanziellen Absicherung von Familien insgesamt. Der Staat muss dafür nicht unbedingt extrem viel Geld in die Hand nehmen. Es geht eher um die richtigen Akzente und strukturelle Veränderungen. Wie kann man es organisieren, dass Eltern unterstützt und begleitet werden? Welche stärkenden Maßnahmen brauchen sie? Es gibt teilweise schon gute Voraussetzungen, etwa in der Schulsozialarbeit, die man erweitern könnte.

Was können wir in dieser Hinsicht von unseren europäischen Nachbarn lernen?
Unser Schulsystem ist ungeschlagen rückständig. Wir sind eines der wenigen Länder in Europa mit einer „Halbtagsschule“. Das führt dazu, dass keine gleichberechtigte Teilhabe von Vätern und Müttern am Arbeitsmarkt stattfinden kann und Kinder schlechter gefördert sind. Wenn die Ganztagsschule für jüngere Kinder aufgebaut wird, profitieren davon alle. Auch Staat und Wirtschaft. Armut könnte ein Stück weit vermieden werden. Insofern ist es folgerichtig, dass Bund und Länder zusammenarbeiten und versuchen, diese Herkulesaufgabe gemeinsam zu stemmen. Und um noch mal auf die Intensivierung von Elternschaft zurückzukommen, über die wir eingangs gesprochen haben: Die Ganztagsschule würde die Eltern auch von ihren eigenen hohen Förderansprüchen entlasten. Der Blick nach Skandinavien ist da sehr lohnend. Schwedischen Eltern ist das, was wir gerade in Deutschland erleben, eher fremd. Für sie ist klar definiert, wofür Eltern und wofür Schulen zuständig sind. Wenn die Kinder Talent zeigen, etwa beim Sport oder in der Musik, wird das in den Bildungseinrichtungen selbstverständlich gefördert. Wäre der deutsche Bildungsbereich besser aufgestellt, könnte er das auch leisten. Es gibt einige ermutigende Beispiele, etwa in der musischen Förderung von Schulkindern in Hamburg.

Interview: Astrid Herbold

 

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 1/2022 von DJI Impulse „Ungleiche Elternschaft: Warum die soziale Kluft zwischen Familien wächst und was der Neunte Familienbericht empfiehlt“ (Download PDF).

Bestellung und Abonnement von DJI Impulse