Warum Familien Geldleistungen nicht in Anspruch nehmen
DJI-Studie befasst sich mit der Nichtinanspruchnahme monetärer Leistungen und nimmt Barrieren für Familien mit und ohne Migrationshintergrund in den Blick
Ein bis zwei Drittel der Haushalte, die in Deutschland zum Bezug von Grundsicherungsleistungen berechtigt sind, nehmen diese nicht in Anspruch. Bei Einzelleistungen, wie zum Beispiel dem Kinderzuschlag, sind es bis zu 70 Prozent. Dass Familien monetäre Leistungen, die ihnen zustehen, unfreiwillig nicht erhalten, ist ein politisches Problem. „Das untergräbt die Wirksamkeit und Effizienz der Familien- und Sozialpolitik“, erklärt Dagmar Müller, wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut (DJI) und eine der Autor:innen der Studie „Barrieren der Inanspruchnahme monetärer Leistungen für Familien“. „Außerdem ist es ungerecht, wenn die Leistungen vorrangig diejenigen erreichen, die sich gut im Leistungssystem auskennen und ihre Ansprüche durchzusetzen wissen, während andere, die einen ähnlichen Bedarf haben, außen vor bleiben“, so Müller. Daher ist es wichtig, die Gründe zu verstehen, die zur Nichtinanspruchnahme führen, um darauf aufbauend Strategien zu entwickeln, die Menschen die Verwirklichung ihrer sozialen Rechte erlauben.
Die DJI-Wissenschaftler:innen werteten die Forschungsliteratur zu Umfang und Gründen der Nichtinanspruchnahme monetärer Leistungen aus und ermittelten mögliche Maßnahmen zur Steigerung der Inanspruchnahme. Ferner sichteten sie Surveydaten zum Leistungsbezug von Familien mit Migrationshintergrund und analysierten diese. Dabei waren Leistungen im Fokus, die der Grundsicherung und Armutsvermeidung dienen und von denen kindbezogene Teile, wie zum Beispiel das Sozialgeld oder der Kinderzuschlag, in die geplante Kindergrundsicherung einfließen sollen.
Hauptergebnisse der Studie
Die Forschung geht nur partiell auf Familienleistungen ein. Nur wenige Untersuchungen nehmen explizit Migrantinnen und Migranten in den Blick. Personen oder Haushalte mit Migrationshintergrund beziehen häufiger Grundsicherungsleistungen als Personen oder Haushalte ohne Migrationshintergrund. Dies ist im Wesentlichen auf ihre schlechtere Arbeitsmarktintegration und geringere Einkommen zurückzuführen. In der Inanspruchnahme, das heißt, bei gleichem Bedarf und Anspruch, zeigen sich keine Unterschiede. Allerdings haben Zugewanderte aufgrund ausländerrechtlicher Sonderregelungen teilweise nur eingeschränkten Zugang zu Sozialleistungen. Außerdem verweisen einige Studien auf Hindernisse bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche gegenüber der Leistungsverwaltung.
Barrieren der Inanspruchnahme
Aus der Literatur lässt sich ableiten, dass es vor allem Unkenntnis, als gering erwartete finanzielle Vorteile, Sprachbarrieren, Schamgefühle, geringes Vertrauen in den Staat und diskriminierende Erfahrungen sind, die die Menschen daran hindern, monetäre Leistungen zu beantragen. Zu weiteren Hauptgründen der Nichtinanspruchnahme von Leistungen zählen hohe bürokratische Hürden, zum Beispiel komplexe Antragsverfahren, zu erbringende Nachweise oder die unzureichende Abstimmung zwischen den einzelnen Leistungssystemen.
Diese Gründe sind noch nicht hinreichend erforscht. Beispielsweise ist unklar, wie die einzelnen Einflussfaktoren zusammenwirken. Auch über regionale und gruppenspezifische Unterschiede der (Nicht)Inanspruchnahme ist wenig bekannt. Die Auswertung vorhandener Bevölkerungssurveys führt nur bedingt weiter, weil relevante Informationen teils gar nicht erhoben werden und die Repräsentativität und Aussagekraft der Daten begrenzt ist. Sinnvoll wären, je nach Fragestellung, auch qualitative und experimentelle Studien. Insgesamt empfiehlt sich daher, verschiedene Forschungsperspektiven miteinander zu verbinden, um die Seite der Anspruchsberechtigten ebenso wie die der Verwaltung in den Blick zu nehmen.
Internationale Ansätze
Die DJI-Wissenschaftler:innen konnten aus der internationalen Literatur erste Hinweise auf Ansätze ableiten, wie die Inanspruchnahme monetärer Leistungen gesteigert werden kann. Hier erscheinen proaktive, digitale und automatisierte Antrags- und Bewilligungsverfahren erfolgversprechend. Risiken gibt es jedoch auch hier, beispielsweise wenn digitale Ausstattungen und Kompetenzen sozial ungleich verteilt sind. Es bleibt daher wichtig, Anspruchsberechtige im Antragsprozess zu beraten und zu begleiten.
Politische Maßnahmen zur Armutsprävention
Zusätzliche politische Relevanz bekommt die Inanspruchnahme von Leistungen im Kontext aktueller Reformvorhaben der Bundesregierung zur Armutsprävention sowie zur Digitalisierung von Familienleistungen. Indem kindbezogene Leistungen zu einer bedarfsgerechten Kindergrundsicherung gebündelt werden und digitale Antragswege beispielsweise beim Elterngeld ermöglicht werden, sollen die Zugänge von Familien vereinfacht werden. Hier kann die Kenntnis allgemeiner und zielgruppenspezifischer Barrieren der Inanspruchnahme helfen, die Leistungen so zu gestalten, dass sie ihre Zielgruppen wie gewünscht erreichen.
Barrieren der Inanspruchnahme monetärer Leistungen für Familien. Benjamin Baisch, Dagmar Müller, Corinna Zollner, Laura Castiglioni, Christina Boll, 108 Seiten, 978-3-86379-457-6 (PDF)DJI-Projekt Familien mit MigrationshintergrundArmuts- und Reichtumsbericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS)
Kontakt
Dagmar Müller
Fachgruppe Familienpolitik und Familienförderung
Tel.: 089/62306-176
dmueller@dji.de
Sonja Waldschuk
Abteilung Medien und Kommunikation
Tel.: 089/62306-173
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