Wie Demokratiebildung im Ganztag besser gelingen kann
Die Ganztagsgrundschule bietet viel Potenzial für demokratiebezogenes Lernen, doch viele Möglichkeiten bleiben bislang ungenutzt und die Perspektive der Kinder wird zu wenig berücksichtigt, zeigt ein Forschungsprojekt

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Die Skepsis junger Menschen in Deutschland gegenüber politischen Institutionen ist hoch, darauf verweisen die neu veröffentlichten Ergebnisse des Surveys des Deutschen Jugendinstituts (DJI) „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“, kurz AID:A: Nur gut ein Viertel der befragten 12- bis 32-Jährigen gab im Jahr 2023 an, der Bundesregierung (eher) zu vertrauen. Die EU hielt etwa ein Drittel von ihnen für (eher) vertrauenswürdig. Damit einher geht den Daten zufolge eine weit verbreitete politik- und wirtschaftsbezogene Zukunftsangst bei dieser Altersgruppe.
Um die politische Teilhabe junger Menschen zu stärken, wird vielfach mehr Demokratiebildung insbesondere in der Schule gefordert. Der geplante Rechtsanspruch auf Ganztagsangebote im Grundschulalter eröffnet dabei ganz neue Möglichkeiten. Allerdings gibt es gegenwärtig kaum empirisches Wissen darüber, wie Demokratiebildung in der pädagogischen Praxis verstanden und konkret praktiziert wird, und welche Bedingungen bei der Umsetzung eine Rolle spielen. Diesen Fragen gingen DJI-Forschende in dem zweijährigen Projekt „Demokratiebildung im Ganztag“ nach. Die Studienergebnisse wurden nun in einem Abschlussbericht veröffentlicht und durch eine Handreichung mit konkreten Empfehlungen für Lehr- und pädagogische Fachkräfte ergänzt.
Im Rahmen der Studie untersuchten die Forschenden den Schulalltag an acht Ganztagsgrundschulen in Bayern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt. Um Aufschluss über die Demokratiebildung zu erhalten, führten sie teilnehmende und videogestützte Beobachtungen im Unterricht, am Nachmittag, in Pausen und Übergangssituationen, wie beispielsweise Aufräumen, durch und erhoben die Perspektive der Lehrkräfte, der pädagogischen Fachkräfte sowie der Schüler:innen anhand von Gruppendiskussionen. Zudem analysierten die Forschenden die Einrichtungskonzeptionen.
Langfristig wirksame Konzepte ausarbeiten und Schulentwicklungsprozess anstoßen
Die Ergebnisse veranschaulichen, wie aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen – etwa Kriege, Einwanderung und Klimakrise – die pädagogische Arbeit prägen: Die Lehr- und Fachkräfte berichteten von Konflikten und Vorurteilen, die Kinder in die Schule tragen und die sie kurzfristig, zum Beispiel anhand von Projekten, aufgreifen. Dies reiche jedoch nicht aus, um solche Themen aufzuarbeiten. Für die Umsetzung von Demokratiebildung mangle es an Zeit und an praxisnahen Konzepten. Die DJI-Forschenden empfehlen vor diesem Hintergrund, an Schulen didaktisch fundierte Konzepte zur langfristigen Förderung von sozialem Lernen, Wertebildung sowie Resilienz im Umgang mit gesellschaftlichen Veränderungen zu entwickeln und einzuführen. Um Verbindlichkeit und Transparenz sicherzustellen, sei es notwendig, die Demokratiebildung in Schulkonzepten zu verankern und einen Schulentwicklungsprozess anzustoßen, der die gesamte Organisationsstruktur und -kultur mit allen Beteiligten betrifft.
Der Studie nach stehen die befragten Lehr- und Fachkräfte der Demokratie zwar insgesamt positiv gegenüber, sind jedoch gleichzeitig über ihren aktuellen Zustand besorgt, vor allem wegen einer mangelnden Debattenkultur und populistischer Tendenzen. Die Forschenden empfehlen deshalb Weiterbildungen für Fach- und Lehrkräfte, die ihre demokratische Haltung und ihre soziale Reflexion fördern und sie insbesondere dazu befähigen, die Schulkultur aktiv nach demokratischen Werten gestalten zu können. Potenziale für die Demokratiebildung schreiben die Forschenden vor allem dem gebundenen Ganztag zu, bei dem die Kinder verpflichtend auch nachmittags in der Schule sind.
Mitbestimmungsformate an Kindern ausrichten
Aus der Beobachtung von Praktiken der Demokratiebildung schließen die Forschenden, dass Mitbestimmungsformate wie Klassenrat, Kinderparlament und Schulversammlung an Ganztagsschulen zwar durchgeführt werden, erkennbar sei jedoch ein Spannungsfeld zwischen dem demokratiepädagogischen Anspruch der Verantwortungsübernahme durch Kinder und organisatorischen Zwängen. Oft dominieren schulische Praktiken wie kontrollierende Mechanismen und das Leistungsprinzip, die die Partizipation der Kinder eher erschweren. „Um die Ziele der Demokratiebildung nicht zu gefährden, ist es daher notwendig, die Struktur und Nutzung von Gremien und Ämtern kritisch zu reflektieren und stärker an den Bedürfnissen und Mitbestimmungsrechten der Kinder auszurichten“, schreiben die Forschenden im Abschlussbericht.
Potenzial von Alltagspartizipation stärker nutzen
Im Zuge der Weiterentwicklung von Demokratiebildung empfehlen die Forschenden, informelle Gestaltungsmöglichkeiten des Schulalltags stärker zu berücksichtigen. Denn viele Aufgabenverteilungen in Pausen und Übergangssituationen bieten Kindern Gelegenheiten, unterschiedliche Interessen durch Mehrheitsentscheidungen auszuhandeln, eigenständig Konflikte zu bearbeiten und sich gegenseitig zu unterstützen. Die in der Studie erhobene Perspektive der Kinder unterstreicht, dass diese informellen Prozesse als authentischer erlebt werden und für die Erfahrung von Selbstwirksamkeit bedeutend sind. Insgesamt sei es wichtig, den Kindern ihre Mitbestimmungsmöglichkeiten nicht nur transparent zu machen, sondern sie verständlich zu vermitteln. Und nicht zuletzt müsse die Stimme der Schüler:innen bei Entscheidungen auch tatsächlich berücksichtigt werden.
AbschlussberichtHandreichung – Empfehlungen für die FachpraxisProjekt „Demokratiebildung im Ganztag“AID:A 2023 Blitzlichter: Zentrale Befunde des DJI-Surveys zum Aufwachsen in Deutschland
Kontakt
Dr. Katja Flämig
Leiterin der Fachgruppe „Pädagogische Konzepte für die Kindheit”
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Abteilung Medien und Kommunikation
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