Publikationen
Grundsätze und Gegensätze
Grundsätze und Gegensätze. Pädiatrische Denkstile zur Tagesbetreuung von Kindern in Ost- und Westdeutschland nach 1945.
In: Soziale Passagen
Jahrg.: 16, H. 1, S. 161-179
Der Beitrag untersucht die Denkstile der pädiatrischen Disziplinen der alten Bundesrepublik, der Deutschen Demokratischen Republik und des wiedervereinigten Deutschlands zur außerfamilialen Tagesbetreuung von Kindern unter drei Jahren. Gestützt auf die wissenschaftstheoretischen Überlegungen Ludwik Flecks verdeutlicht eine inhaltsanalytische Auswertung von 48 Lehrbüchern der Kinderheilkunde, dass sich eine traditionelle pädiatrische Skepsis in der alten Bundesrepublik jahrzehntelang hielt, während Krippenbetreuung in der DDR zunehmend positiv konnotiert wurde. Beide kinderärztliche Disziplinen unterstützten in unterschiedlichem Ausmaß mit diesen Denkstilen die (wohlfahrts)staatliche Regulierung der frühen Kindheit. Die Marginalisierung der ostdeutschen Pädiatrie nach der Wiedervereinigung mündete in eine Latenzphase in den 1990er-Jahren, in der sich die westdeutsche Pädiatrie scheinbar durchsetzte. Einhergehend mit veränderten wohlfahrtsstaatlichen Regulierungen der frühen Kindheit erfolgte nach der Jahrtausendwende jedoch eine grundlegende Neubewertung der U3-Betreuung. Der skeptische pädiatrische Denkstil zur außerfamilialen Tagesbetreuung verschwand schlagartig und wurde durch positive Zuschreibungen ersetzt. Diese Entwicklung markiert einen Bruch des pädiatrischen Denkstils im wiedervereinigten Deutschland im Vergleich zur alten Bundesrepublik und selbst zur frühen DDR.