Buchvorstellung: Die vergessenen Säuglingsheime
In den sechziger Jahren gab es in der Bundesrepublik und der DDR mehr als 600 Säuglingsheime. Die erste umfassende historische Studie über diese problematischen Einrichtungen wurde am DJI vorgestellt

© Rudi Dix/Stadtarchiv München, DE-1992-FS-NL-RD-2430A33
In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wuchsen in West- und Ostdeutschland mehrere hunderttausend Kinder phasenweise in Säuglings- und Kleinkinderheimen auf. Viele Plätze in diesen Heimen wurden erst lange nach Kriegsende geschaffen. Erstaunlicherweise entstanden diese Einrichtungen also nicht in der Not der unmittelbaren Nachkriegszeit, sondern gehörten zur Sozialordnung Deutschlands bis weit in die 1960er-Jahre, in der DDR sogar bis zur Wiedervereinigung 1990. In der Aufarbeitung der Heimgeschichte beider deutscher Staaten spielten die Säuglingsheime allerdings bisher keine Rolle.
Das erste Buch über die Geschichte dieser Einrichtungen („Die vergessenen Säuglingsheime. Zur Geschichte der Fürsorge in Ost- und Westdeutschland“, Psychosozial-Verlag) wurde am 27. März im Deutschen Jugendinstitut (DJI) vorgestellt. Jan Friedmann, Redakteur des SPIEGEL in München, moderierte die Veranstaltung. Der DJI-Wissenschaftler Felix Berth zeichnet in dieser Arbeit nach, wie häufig Kinder in diesen Heimen untergebracht wurden und was die zeitgenössische Wissenschaft über die Risiken dieser Heime für die kindliche Entwicklung herausfand. In mehreren Interviews kommen Betroffene zu Wort, die sich über ihre Zeit im Säuglingsheim und ihre Kindheit Gedanken machen.
Daneben versucht das Buch, das verstreute Wissen über die Herkunftsfamilien der betroffenen Kinder zu sammeln. Erkennbar wird, dass die deutschen Behörden die familiären Verhältnisse dieser Kinder häufig als auf irgendeine Weise problematisch einschätzten, weshalb eine Heimerziehung den Eltern nahegelegt oder mit rechtlichem Zwang durchgesetzt wurde. In diesen Einschätzungen spiegeln sich auch familienbezogene Normen, die sich in der Bundesrepublik ab den 1960er-Jahren deutlicher liberalisierten als in der DDR. In Westdeutschland wurden diese Heime deshalb ab etwa 1965 schnell abgeschafft, in der DDR wurden sie tabuisiert und existierten teilweise bis zur Wiedervereinigung.
Leseprobe: https://www.psychosozial-verlag.de/pdfs/leseprobe/9783837932041.pdf
Kontakt
Dr. Felix Berth
Abteilung Kinder und Kinderbetreuung
Tel.: 089 62306-595
berth@dji.de
Daniela Schäfer
Abteilung Medien und Kommunikation
Tel.: 089/62306-192
dschaefer@dji.de