Pionierin der Mädchen- und Frauenforschung
Gerlinde Seidenspinner, ehemals Leiterin der Abteilung „Mädchen- und Frauenforschung“ am DJI und stellvertretende Direktorin, ist im Alter von 88 Jahren verstorben. Sie leistete elementare Beiträge zur Jugend- und Geschlechterforschung und prägte damit die Entwicklung des Instituts

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Mädchen und junge Frauen in den Fokus der Forschung zu rücken war eines der großen Anliegen von Gerlinde Seidenspinner. Als in den 1970er-Jahren der Bundesrepublik traditionelle Geschlechterrollenbilder aufzubrechen begannen, durch eine neue Frauenbewegung, die Gleichstellung forderte sowie Bildungs- und Arbeitsmarktreformen, die Mädchen und Frauen die Tür zu mehr (Aus-)Bildung, eigener Erwerbstätigkeit und Selbstbestimmtheit öffneten, setze sich die Soziologin dafür ein, die sich verändernden Lebenswege von Mädchen und Frauen genauer zu untersuchen. Damit ist das Forschungsinteresse der ehemaligen Leiterin der Abteilung „Mädchen- und Frauenforschung“ und stellvertretenden Institutsdirektorin eng mit der Entwicklung des Deutschen Jugendinstituts (DJI) verbunden.
Mit ihrer Forschung machte sie Mädchen und Frauen sichtbar
Gerlinde Seidenspinner machte sich dafür stark, dass die erste repräsentative Befragung zur Lebenssituation und zum Lebensgefühl 15- bis 19-jähriger Frauen in der Bundesrepublik durchgeführt wurde. Ausgangspunkt war die hohe Jugendarbeitslosigkeit Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre, zu der die damalige Jugendforscherin bereits die qualitative Studie „Jugend unter dem Druck der Arbeitslosigkeit“ durchgeführt hatte. Deren Befunde über die Unterschiede zwischen jungen Männern und Frauen wurden im politischen Raum breit diskutiert und erzeugten das Interesse, die Situation von Mädchen detaillierter zu erforschen. Zur Finanzierung einer groß angelegten Studie bot sich die Frauenzeitschrift „Brigitte“ an, die Gerlinde Seidenspinner mit Kolleginnen – trotz anfänglicher Zweifel am DJI bezüglich der Deutungshoheit der Forschenden und der Unabhängigkeit gegenüber einem Medienkonzern– durchführte. Die Ergebnisse wurden im Jahr 1982 unter dem Titel „Kind? Beruf? Oder beides?“ von der damals auflagenstärksten Frauenzeitschrift Europas veröffentlicht, was zu großer bundesweiter Resonanz in Medien, Politik und Wissenschaft führte. Die Studie zeigte unter anderem auf, dass für junge Frauen trotz Wunsch nach Partnerschaft und Familie die berufliche Verwirklichung an erster Stelle stand – auch, um im Unterschied zu ihren Müttern auf eigenen Beinen zu stehen.
Vordenkerin und Vorbild für neue Lebensentwürfe
Im Jahr 1988 wurde Gerlinde Seidenspinner am DJI Leiterin der neu gegründeten Abteilung „Mädchen- und Frauenforschung“. Ein eigener Forschungsschwerpunkt sollte sich weiblichen Biografien widmen, um sie nicht länger nur als Querschnittsthema anderer Forschungsbereiche zu betrachten. „Die erfolgreiche Institutionalisierung der Frauenforschung am DJI ist der Verdienst von Gerlinde Seidenspinner“, sagt der ehemalige DJI-Direktor Prof. Dr. Hans Bertram und erklärt, wie es ihr gelang, unterschiedliche Strömungen der Geschlechterforschung am DJI zusammenzuführen: „Sie war klug, durchsetzungsstark – und gleichzeitig kooperativ“. Um sich als Mutter von drei Kindern die nötige zeitliche Flexibilität für ihre Leitungstätigkeit zu verschaffen, forderte sie gegenüber dem Bundesfamilienministerium, als Abteilungsleiterin ihre offizielle Arbeitszeit auf 35 Stunden reduzieren zu dürfen – und setzte sich damit durch. Damit verkörperte sie als Forschende genau das, was viele (junge) Frauen ihrer Studie zufolge wollen – und zeigte, dass dies auch möglich ist: Kind(er) und Karriere.
Mit ihrem Team untersuchte Gerlinde Seidenspinner unter anderem die Ablösung von Mädchen aus ihrer Herkunftsfamilie, das Erproben neuer Lebensentwürfe und berufliche Entwicklungen, Strategien zur Verwirklichung weiblicher Interessen, strukturelle Veränderungen der Frauenerwerbsarbeit und auch die Prävention sexueller Gewalt gegen Mädchen. Damit schuf sie mit ihrer Abteilung zehn Jahre lang „den Rahmen für unterschiedliche Perspektiven auf weibliche Sozialisationsprozesse und auf die zugrundeliegenden Unausgewogenheiten und Asymmetrien der Geschlechterverhältnisse“, wie Gerlinde Seidenspinner selbst in der Zeitschrift „Diskurs“ im Jahr 2003 resümiert.
Die junge Generation und ihre Belange lagen ihr zeitlebens am Herzen
Sie veröffentlichte unter anderem Bücher über „Töchter und Mütter“ (1988), „Frau Sein in Deutschland“ (1994) und „Junge Frauen heute“ (1996) und war zunächst neben DJI-Direktor Hans Bertram, und ab 1993 neben Ingo Richter, stellvertretende Institutsdirektorin. Seidenspinner, 1937 geboren, war außerdem Professorin für Erziehungswissenschaften an der Freien Universität Berlin und zeigte auch weit über ihr berufliches Schaffen hinaus – und noch im hohen Alter – großes Interesse an jungen Menschen und deren Belange: Viele Jahre und bis zu ihrem Tod engagierte sie sich für die Kinderhilfsorganisation „Children for a better World“. Als Mitglied des Kuratoriums und in der Jury des Engagement-Programms „Jugend hilft“ wählte sie beispielhafte und förderwürdige Projekte aus, die von Jugendlichen selbst initiiert wurden. Am 12. Oktober 2025, im Alter von 88 Jahren, ist Gerlinde Seidenspinner nach kurzer schwerer Krankheit verstorben.
Kontakt
Uta Hofele
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