„Wir möchten die Digitalisierung noch intensiver und strategischer in den Blick nehmen“

Im Interview spricht Sabine Walper über ihre Arbeitsschwerpunkte sowie anstehende Chancen und Herausforderungen des Instituts.

 

Frau Professor Walper, Sie übernehmen am 1. Oktober die Leitung des Deutschen Jugendinstituts. Herzlichen Glückwunsch zur neuen Position. Das Institut kennen Sie bereits seit fast zehn Jahren als Forschungsdirektorin. Was waren Ihre Arbeitsschwerpunkte in dieser Zeit?

Vor meinem Start am DJI war ich vor allem im Bereich der Familienforschung tätig, immer mit engen Bezügen zu Kindheits- und Jugendforschung. Diese Schwerpunkte habe ich am DJI weiterverfolgt, in Absprache mit meinem Vorgänger, dem langjährigen DJI-Direktor Prof. Dr. Thomas Rauschenbach. Vor allem war ich am DJI bisher inhaltlich und organisatorisch für die Abteilungen „Zentrum für Dauerbeobachtung und Methoden“ sowie „Familien und Familienpolitik“ zuständig. Ein wichtiger Schwerpunkt meiner Tätigkeit war die Surveyforschung, insbesondere die DJI-Erhebung „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“, kurz AID:A. Mit den Daten lassen sich wertvolle Erkenntnisse über die Lebenslagen, Alltagspraxen, Einstellungen und das Wohlergehen von Kindern, Jugendlichen und Familien gewinnen. Diese regelmäßigen, bundesweit repräsentativ angelegten Befragungen dienen der Sozialberichterstattung sowie der anwendungsorientierten Grundlagenforschung und richten sich damit an Wissenschaft, Fachpraxis und Politik. Unter anderem konnten wir sie für den aktuellen Neunten Familienbericht der Bundesregierung nutzen, der das Thema „Eltern sein in Deutschland“ in den Mittelpunkt stellt. Als Vorsitzende der unabhängigen Sachverständigenkommission habe ich intensiv an diesem Bericht mitgearbeitet. Bei der Gestaltung der Forschung am DJI war und ist mir auch die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses sehr wichtig. Für die Promovierenden habe ich beispielsweise die Summerschool ins Leben gerufen, um sie bei Konzeption und Ausarbeitung ihrer Arbeiten inhaltlich und methodisch zu unterstützen.
 

Das Kuratorium des DJI hat Sie vor wenigen Tagen zur neuen Direktorin und Vorstandsvorsitzenden des DJI gewählt. Was reizt Sie an der Aufgabe?

Das DJI hat eine zentrale strategische Bedeutung für die Familien, Kinder- und Jugendpolitik. Das Institut ist angesiedelt an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Fachpraxis und Politik. Die Forschung in diesem wichtigen und anspruchsvollen Spannungsfeld war bereits mein Hauptmotiv, ans DJI zu kommen, denn hier habe ich stärker als im universitären Bereich die Möglichkeit, die Praxis mitzugestalten, die Politik zu beraten und bei der Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe mitzuwirken – für mich ausgesprochen reizvolle Aufgaben. Dazu gehört auch der Austausch mit anderen Professionen und Forschungsfeldern, wie etwa den Gesundheitswissenschaften, der Psychologie, dem Familienrecht.
 

Kurz zusammengefasst: Vor welchen großen Herausforderungen steht das DJI aus Ihrer Sicht in den kommenden fünf Jahren?

Ich sehe vor allem drei Punkte: Digitalisierung, Internationalisierung und Wirkungsforschung. Die Digitalisierung reicht intensiv in die Lebenswelten von Eltern, Kindern und Jugendlichen hinein und verändert das professionelle Handeln von Fachkräften. Gleichzeitig eröffnet sie den Weg zu neuen Forschungsmethoden. Während der Pandemie haben digitale Kommunikation, internetbasiertes Lernen und Arbeiten und Online-Angebote enormen Aufschwung genommen. Auf diese Veränderungen müssen wir mit unseren Forschungsthemen und mit der Erweiterung unseres Methodenrepertoires noch stärker reagieren.

In einer stärkeren internationalen Ausrichtung unserer Forschung sehe ich große Chancen für die Weiterentwicklung unserer Arbeiten. Die Forschung im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe ist stark auf die Strukturen in Deutschland bezogen, aber viele Problemlagen und Herausforderungen stellen sich ähnlich in anderen Ländern, die sich ebenso bemühen, Kinder- und Jugendliche in ihrer Entwicklung zu unterstützen und gute Bedingungen zu schaffen. Hier kann der Blick über den eigenen Tellerrand, insbesondere nach Europa, neue Impulse bieten. Das gilt beispielsweise im Bereich der Beratungsangebote für Trennungsfamilien, bei Ansätzen analog zu unseren Frühen Hilfen oder im Kinderschutz.

Im Fokus steht für mich auch die Wirkungsforschung. Sie ist unabdingbar, um Konzepte und Ansätze in der Praxis zielgerichtet zum Nutzen ihrer Adressatinnen und Adressaten weiterzuentwickeln. Die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe sind zentrale Bausteine zur Gewährleistung guter Bedingungen des Aufwachsens in Deutschland. Sie müssen immer wieder justiert werden, weil sich die Aufgaben und Bedingungen professionellen Handelns verändern. Die Fachkräfte und Institutionen müssen ja wissen, mit welchen Instrumenten sie in welchen Situationen und bei welchen Aufgaben gute Chancen haben, ihre intendierten Erfolge zu erzielen. Wenn es etwa um den Schutz vor sexueller Gewalt geht, ist es für Schulen und Kitas hilfreich zu wissen, welche Elemente institutioneller Schutzkonzepte die wirkungsvollsten sind. Sind die Ressourcen knapp, würde man sinnvollerweise diese Elemente als erste in der Praxis umsetzen.
 

Was sind Ihre inhaltlichen und strategischen Schwerpunkte für Ihre Amtszeit?

Wir möchten die Digitalisierung noch intensiver und strategischer in den Blick nehmen, die Aktivitäten im Hause stärker bündeln und in der Kooperation mit externen Partnerinnen und Partnern ein zukunftsweisendes Forschungsprogramm aufbauen. Darüber hinaus werden uns in den kommenden Jahren viele Dauerthemen beschäftigen, die in der Coronapandemie an Bedeutung gewonnen haben. Insbesondere gilt das für das Aufwachsen in Armut, die in Deutschland übergroße Bedeutung der sozialen Herkunft für die Bildungschancen junger Menschen und die Herausforderungen in der Integration zugewanderter Familien. Aber auch die psychischen und sozialen Nachwirkungen der Pandemie werden uns beschäftigen. Ich vermute, dass in der nächsten Legislaturperiode die Kindergrundsicherung aufgegriffen wird sowie das Thema psychische Gesundheit. Etwa ein Drittel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland weisen oder wiesen während der Pandemie relevante Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit auf und sind in ihrer sozialen Entwicklung verunsichert. Hier sehe ich nicht nur das Gesundheitswesen, sondern auch die Kinder- und Jugendhilfe mit ihren vielfältigen wichtigen Unterstützungsleistungen in der Verantwortung.
 

Was planen Sie als erste Schritte am DJI?

Die Aufgabenverteilung bei der wissenschaftlichen Steuerung des Hauses werden wir neu aufstellen müssen und haben schon mit der Organisationsentwicklung begonnen. Noch haben wir keine neue Forschungsdirektorin beziehungsweise keinen neuen Forschungsdirektor im Team. Die Schwerpunkte für die Besetzung dieser Stelle werde ich mit den Leitungskräften des DJI besprechen, damit unsere Verwaltungsdirektorin Astrid Fischer und ich rasch wieder Unterstützung im Direktorium haben. Wir werden eine Reihe von Workshops starten, um unsere strategischen Themen und Methoden in Kooperation mit internationalen Expertinnen und Experten weiterzuentwickeln. Und wir werden sehen müssen, wie wir die hauseigene IT und die Methodenabteilung stabilisieren können, um die anstehenden Aufgaben zu bewältigen. Das ist das Rückgrat unserer Forschung.
 

Zum Abschluss eine persönliche Frage: Gibt es ein Maxime, die Sie durch Ihren Alltag begleitet?

Keine leichte Frage. Vielleicht am ehesten: Qualität zählt. Wir haben als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in allen am DJI vertretenen Disziplinen das Privileg, spannende aktuelle Themen, Trends und Transformationen im privaten und beruflichen Alltag aufgreifen und in ihren Entstehungs- und Wirkungszusammenhängen erforschen zu können, um mit diesen Erkenntnissen die Fachpraxis und Politik zu beraten. Damit haben wir auch eine hohe Verantwortung gegenüber den jungen Menschen, Familien, Fachkräften und Institutionen, denen unsere Arbeit zu Gute kommen soll. Gerade weil unsere Arbeit so praxisrelevant ist, müssen wir die richtigen Fragen stellen, die aussagekräftigsten und belastbarsten Forschungsmethoden nutzen und auf vielfältige Wege der Dissemination unserer Erkenntnisse zurückgreifen. Wir müssen an jeder Stelle unser Bestes geben, um dieser hohen Verantwortung gerecht zu werden.

Interview: Marion Horn


Schon seit Februar 2012 ist Prof. Dr. Walper stellvertretende Direktorin und als Forschungsdirektorin hauptverantwortlich für den großen DJI-Survey „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ (AID:A).

Die Arbeitsschwerpunkte der Psychologin, Erziehungswissenschaftlerin und Psychotherapeutin liegen in der Bildungs- und Familienforschung, insbesondere in der Forschung zu Entwicklungsbedingungen und Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen in unterschiedlichen Familienkontexten. Walper engagiert sich in nationalen und internationalen Fachgesellschaften und Gremien.

Die gebürtige Düsseldorferin kam über Stationen in Berlin und Berkeley (USA) nach München, wo sie sich im Jahr 1999 an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München mit einer Arbeit über Jugendliche in Konflikt-, Trennungs- und Stieffamilien habilitierte.
2001 trat sie eine Professur für Allgemeine Pädagogik und Bildungsforschung mit dem Schwerpunkt Jugend- und Familienforschung an der LMU München an.
 

Interview Handelsblatt: Direktorin des Deutschen Jugendinstituts: „Verstehe es gut, wenn Eltern die Nerven verlieren“

Interview Deutschlandfunk: Aufwachsen in einer Pandemie


Kontakt

Prof. Dr. Sabine Walper
Forschungsdirektorin und stellvertretende Direktorin des DJI
ab 1. Oktober 2021 Direktorin und Vorstandsvorsitzende des DJI
Tel.: 089/62306-289
Email

Marion Horn
Abteilung Medien und Kommunikation
Tel.: 089/62306-311
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