Jörg Fichtner
Konzeptionen und Erfahrungen zur Intervention bei hoch konflikthaften Trennungs- und Scheidungsprozessen - Exemplarische Praxisprojekte
München 2006

Die in der Expertise dargestellte Zunahme des Beratungsbedarfs für hochstrittige Trennungsfamilien, der bei den zuständigen Institutionen eine exponentielle Auswirkung durch die Zunahme von solchen Fällen einerseits und durch die Zunahme von Beratungsstunden je Fall andererseits zeitigt, führt inzwischen im Feld zu einer außerordentlich hohen Dynamik bei der Entwicklung und Umsetzung von entsprechenden Konzepten. Kaum zu übersehen ist, dass hier von vielen MitarbeiterInnen der betroffenen Professionen Engagement weit über engen beruflichen Auftrag hinaus und nicht selten ganz oder teilweise ehrenamtlich geleistet wird. Dafür verantwortlich ist auch eine positive Aufbruchstimmung, die besonders in der Kooperation mit anderen Institutionen zu entstehen scheint. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass die Mehrzahl der Interventionsformen nicht in den letzten Jahren, sondern häufig bereits vor der Kindschaftsrechtsreform entstanden ist; teilweise in einem gesellschaftlichen Klima, in dem Scheidung und entsprechende Beratung weitaus stärker tabuisiert war als heute. Nicht zuletzt diese lange Tradition hat zu einer Vielzahl von Beratungs- und Kooperationsformen geführt, die sich heute in einer in der Summe erstaunlich breiten und vielfältigen Palette an Interventionskonzepten für Scheidungsfamilien widerspiegelt. Und nicht selten kann ein großer Ausschnitt aus dieser Angebotspalette im Rahmen einer einzelnen Einrichtung oder von eng verzahnten fachlichen Kooperationen innerhalb einer Region den Trennungsfamilien auch zur Verfügung gestellt werden.

Gleichzeitig scheint – nicht zuletzt durch ein gewandeltes Verständnis, das in der Kindschaftsrechtreform seinen Ausdruck erfährt – nicht nur eine Orientierung am Kindeswohl, sondern dessen Erfüllung vor allem durch eine Aufrechterhaltung der Kontakte der von Trennung betroffenen Kinder zu beiden Eltern, zunehmend zur Messlatte auch der Arbeit mit hochstrittigen Eltern zu werden. Diese Ausrichtung selbst führt in der Beratungslandschaft ganz offensichtlich auch zu erheblichen Erfolgsdruck bezüglich einer Einigung der Eltern und nicht in wenigen Fällen zu erlebter beraterischer Hilflosigkeit. Daneben scheint die Bereitschaft der psychosozialen Professionen gewachsen zu sein, sich – gerade im Rahmen von überinstitutionellen Kooperationen – an Abläufen von Verfahren zu orientieren, die nicht selten juristisch geprägt sind. Neben den fraglosen Vorteilen eines besseren Ineinandergreifens juristischer und psychosozialer Interventionen, das insbesondere für die Gruppe der Hochkonfliktfamilien indiziert scheint, droht dabei die Gefahr, fachspezifische Zugänge zu vernachlässigen: Hierzu wären u.a. eine angemessen lösungsrelevante Diagnostik sowie psychoedukative, empathisch-verstehende und strukturierende Beratungs- und Therapieansätze zu zählen. Hierzu wäre aber auch die Frage zu zählen, wann eine Orientierung am Kindeswohl gerade aus psychosozialer Sicht den systematischen Einbezug der Kinder in die Beratungsarbeit erfordert und durch bloße Einigung der Eltern alleine nicht zu gewährleisten ist.

Offener Bedarf für die Arbeit im Feld hochstrittiger Trennungs- und Scheidungseltern lässt sich aufgrund der hier vorgelegten Untersuchung einiger paradigmatischer Konzeptionen und entlang der im letzten Kapitel dargestellten Themenfelder unter vier Aspekten formulieren:

  1. Systematische und nachhaltige Intervention bei Hochkonfliktfamilien benötigt ein Mehr an Theorie und vor allem an Befunden zu solchen Familien, zu Bedingungen der Entstehung und Aufrechterhaltung dieser Konflikte und damit zu spezifischen Ansatzpunkten für die Intervention. Wunsch und Bedarf im Feld nach einer fundierten Theorie der Hochstrittigkeit sind offensichtlich, das Fehlen entsprechender empirisch gesicherter Modelle kaum weniger.
  2. Systematische und nachhaltige Intervention bei Hochkonfliktfamilien benötigt weiterhin ein Mehr an Strukturierung von Interventionskonzepten, wozu sowohl die Entwicklung und der Ausbau neuer Konzepte, als auch eine systematischere Integration vorhandener Interventionsformen und Beratungselemente gehört. Angesichts wachsender Komplexität gerade innerhalb von kooperativen Strukturen wäre hier die Entwicklung von fundierten Handlungsroutinen zur Gewährleistung notwendiger, fallspezifischer Angebote noch besser zu entwickeln. Insbesondere die Nutzung intra- und interprofessionell heterogener Kompetenzen erfordert eine Abstimmung, die weit über die Beschleunigung von Verfahren hinausgeht.
  3. Systematische und nachhaltige Intervention bei Hochkonfliktfamilien benötigt, gerade wenn sie primär dem Kindeswohl verpflichtet ist, ein Mehr an Konzept zum Einbezug der Kinder in die Interventionen. Vor dem Hintergrund eines vorliegenden breit entwickelten Spektrums an diagnostischen und therapeutischen Verfahren für Kinder auf der einen Seite, der besonderen Verantwortung öffentlicher Hilfen und auch des staatlichen Wächteramtes in familiären Krisensituationen auf der anderen, scheint eine systematische konzeptionelle Klärung der Rolle der Kinder im Rahmen von Interventionen bei Hochstrittigkeit dringend geboten.
  4. Systematische und nachhaltige Intervention bei Hochkonfliktfamilien benötigt schließlich insbesondere ein Mehr an Wissen über Effekte und Effektivität des eigenen Vorgehens. Den breiten Anstrengungen und innovativen Entwicklungen im Feld steht kaum eine angemessene Erfolgskontrolle gegenüber und schon gar nicht eine vergleichende Auswertung zwischen den Konzeptionen. Welche der unterschiedlichen Kooperationsformen und heterogenen Beratungsbausteine für Eltern und Kinder aber wirklich wirksam sind, welche die Konflikte bei der Zielgruppe tatsächlich zu reduzieren vermögen, ist aber schließlich keine theoretische Frage, sondern eine empirische.

 

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