Gefährliches Zuhause?

Obwohl bislang wissenschaftliche Belege fehlen, dass Jugendliche während der Pandemie häufiger Opfer von häuslicher Gewalt wurden, bleiben Zweifel. Welche Konsequenzen Forschung und Jugendschutz ziehen sollten.

Von Julia Reim und Heinz Kindler

Die Covid-19-Pandemie hat, vor allem über die mit ihr verbundenen Schulschließungen und Kontaktbeschränkungen, das Alltagsleben Jugendlicher maßgeblich verändert. Verschiedene Studien zeigen, dass Jugendliche während der Pandemie deutlich weniger Zeit mit Lernen und mit Freund:innen verbracht haben (Bujard u.a. 2021). Stattdessen sind die Zeitanteile für Mediennutzung und Zusammensein mit der Familie gewachsen. Mehr Zeit gemeinsam mit den Eltern verbunden mit einer (mutmaßlich) erhöhten psychischen Belastung aller Familienmitglieder während der Pandemie hat zu vielfältigen Warnungen vor mehr elterlicher Gewalt geführt.

Beziehungen zwischen Eltern und Kindern haben sich nicht zwangsläufig verschlechtert

Auf der Basis des derzeit am weitesten verbreiteten, auch als „ökologisch“ bezeichneten Modells der Entstehung innerfamiliärer Gewalt gegen Jugendliche und Kinder (Belsky 1993) wurde eine Zunahme der Gewalt deshalb vorhergesagt, weil familiärer Stress und Belastung in diesem Modell als wesentliche Ursache eskalierender Konflikte verstanden werden. Eine pandemiebedingte Zunahme an familiärem Stress und Belastung sollte daher zwangsläufig zu mehr Gewalt führen. Mit nun vorliegenden Daten kann die vermutete Ursachenkette einer ersten empirischen Prüfung unterzogen werden.

Der Ausgangspunkt der vermuteten Kausalkette ist unstrittig: Die Pandemie und ihre Begleiterscheinungen wurden von Jugendlichen wie Eltern als belastend empfunden. Dies zeigt sich bei Jugendlichen in qualitativen wie quantitativen Befragungen zur Befindlichkeit (Scott u.a. 2021) sowie in standardisierten Erhebungen zum Anteil klinisch belasteter junger Menschen (Samji u.a. 2021). Bei Eltern ergibt sich ein ähnliches Bild (Bujard u.a. 2021).

Bereits beim nächsten Schritt in dieser vermuteten Kausalkette – einer belastungsbedingten Verschlechterung der Beziehung zwischen Eltern und Jugendlichen sowie einer Zunahme von Konflikten – wird das Bild uneindeutiger. In Deutschland bietet etwa das Beziehungs- und Familienpanel pairfam eine Möglichkeit, die Entwicklung von Konflikten und Beziehungs­belastungen aus der Sicht von Jugendlichen während der Pandemie zu betrachten. In der repräsentativen Erhebung wurden jeweils 12- bis 15-Jährige ein Jahr vor der Pandemie, während der ersten Welle sowie während der zweiten und dritten Welle der Pandemie befragt.

In einer bislang unveröffentlichten Auswertung der pairfam-Daten des Deutschen Jugendinstituts (DJI) wird das Ausmaß negativer Kommunikation zwischen Eltern und Jugendlichen (Auskunft der Jugendlichen) im Verlauf der Pandemie deutlich. Negative Kommunikation wurde dabei als fünfstufige Skala aus drei Items gebildet („Mutter/Vater nörgelt an Dir herum“, „Mutter/Vater schreit Dich an, wenn Du etwas falsch gemacht hast“, „Mutter/Vater beschimpft Dich, wenn sie/er wütend auf dich ist“). Es zeigt sich, dass eine ausgeprägt negative Kommunikation während der ersten Welle temporär sogar etwas zurückgegangen ist, um in der zweiten und dritten Welle wieder auf das Ausgangsniveau zurückzukehren. Ein signifikanter Anstieg negativer Kommunikation der Eltern gegenüber ihren jugendlichen Kindern zeigt sich während der Pandemie zu keinem Zeitpunkt.

Zu beachten ist, dass die Ergebnisse aktueller Studien nicht einheitlich sind. Einige Untersuchungen berichten über eine von Eltern wahrgenommene, wenngleich nicht im Längsschnitt abgesicherte Zunahme an Konflikten, etwa rund um den Distanzunterricht (Thorell u.a. 2021). Metaanalysen über alle vorhandenen Studien hinweg zu Richtung und Stärke eventueller Effekte von Corona auf Konflikte zwischen Eltern und Jugendlichen – mit einer Analyse differenzierender Faktoren – stehen bislang aus.

Ein besseres Verständnis der Ursachen von Misshandlungen von Kindern und Jugendlichen wäre unmittelbar praxisrelevant, da Hilfen sinnvollerweise bei Entstehungsmechanismen ansetzen.

Bislang keine Belege für eine Zunahme von Misshandlungen von Jugendlichen

Studien zur Gewalt gegen Jugendliche und Kinder zeigen unerwartet mehrheitlich keinen Anstieg. Dies gilt insbesondere für das sogenannte Hellfeld, das ausschließlich dokumentierte Misshandlungen beinhaltet. So stiegen die Rate gewaltbedingter pädiatrischer Verletzungen in den Notaufnahmen der Krankenhäuser (Bruns u.a. 2022) und die Zahl der Anzeigen wegen Misshandlung Schutzbefohlener und Kindesmisshandlung in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) nicht. Die auf körperliche Misshandlung von Jugendlichen (14–17 Jahre) bezogenen Gefährdungsmitteilungen bei den Jugendämtern haben sich von dem Jahr 2019 auf das Jahr 2020 deutlich weniger erhöht als in jedem einzelnen der fünf Jahre davor.

Natürlich gibt es zu allen Zeiten Fälle von Gewalt, von denen Institutionen keine Kenntnis erlangen. Forschungserkenntnisse zu diesem Dunkelfeld liegen für die Zeit der Pandemie bislang aber kaum vor (Marmor/Cohen/Katz 2021). Einer deutschen Dunkelfeldstudie fehlen Vergleichsdaten zu Zeiten vor der Pandemie (Ebert/Steinert 2021). International finden einzelne Untersuchungen selbst in gezielt ausgewählten Risikostichproben nur zeitweise leicht erhöhte Raten an Gewalt (Machlin u.a. 2021), die die prognostizierten substanziellen Anstiege (Fabbri u.a. 2021) nicht zu bestätigen scheinen.

Wie kann das sein? Ein vermindertes Bekanntwerden von Gewalttaten und selektiver Ausfall stärker belasteter Familien bei Dunkelfeldstudien wären ein Erklärungsansatz. Zwar sind die für den Kinderschutz verantwortlichen Institutionen auch während der Pandemie arbeitsfähig geblieben, etwa die Jugendämter (Mairhofer u.a. 2020). Dennoch kam es hier nach dem Aufheben der Kontaktbeschränkungen in vielen Bereichen zu temporär leichten Nachholeffekten, wie Daten der 8a-Zusatzerhebung der Arbeitsstelle Kinder und Jugendhilfestatistik im Forschungsverbund DJI/TU Dortmund zeigen. Bei Partnerschaftsgewalt (Kourti u.a. 2021) und sexueller Gewalt beziehungsweise sexueller Ausbeutung von Jugendlichen und Kindern (ECPAT 2021) belegen Hell- wie Dunkelfelddaten jedoch deutlich angestiegene Fallzahlen, die bei der Misshandlung fehlen. Im Unterschied zum dominanten Erklärungsansatz bei körperlicher Misshandlung werden Partnerschaftsgewalt und sexuelle Gewalt beziehungsweise sexuelle Ausbeutung allerdings weniger als Überforderungsanzeichen denn als Form von Machtausübung und als beabsichtigtes Verhalten verstanden. Es werden also andere Entstehungsmechanismen angenommen, die möglicherweise auf andere Weise durch die Pandemie beeinflusst wurden.

Die unerwarteten Befunde stellen gängige wissenschaftliche Modelle infrage

Weitere Erklärungsansätze für den – zumindest bislang – nicht nachweisbaren Anstieg bei elterlicher Gewalt gegen Jugendliche wären, dass es gerade die gemeinsame und offensichtlich nicht selbst gemachte Belastung durch Corona war, die einen häufigeren Umschlag in Schuldzuweisungen und Gewalt verhindert hat – oder dass die mittlerweile allgegenwärtigen digitalen Medien es Jugendlichen wie Eltern ermöglicht haben, sich selbst auf engstem Raum aus dem Weg zu gehen und Eskalationen zu vermeiden. Denkbar ist (in der Bilanzierung belastender und entlastender pandemiebedingter Faktoren) auch eine Nettoentlastung bei besonders gewaltgefährdeten Familien durch den zeitweisen Wegfall schulischer Stressoren – während eher bildungsaffine Eltern durch die Distanzbeschulung besonders gestresst waren (Vogelbacher/Attig 2021).

Bei den Warnungen vor einer Zunahme elterlicher Gewalt gegen Jugendliche handelt es sich dennoch nicht oder allenfalls teilweise um „Angstkonstruktionen“ als Zeitgeistphänomen (Filatkina/Bergmann 2021), sondern vor allem um eine folgerichtige Ableitung aus dem dominanten wissenschaftlichen Erklärungsansatz, wonach familiärer Stress ungeachtet der Stressursache das Risiko für mehr elterliche Gewalt erhöht. Schon vor der Pandemie wurde kritisiert, dass das zugrunde liegende ökologische Modell der Entstehung von Misshandlung nicht erklärt, warum es in einigen sehr belasteten Familien zu einer Misshandlung von Jugendlichen beziehungsweise Kindern kommt und in anderen, ähnlich belasteten Familien nicht (Kindler 2017).

Befunde aus der Zeit der Pandemie könnten hier ein Anstoß sein, sich der Ursachenforschung zur Misshandlung von Jugendlichen und Kindern wissenschaftlich erneut zuzuwenden. Ein besseres Verständnis der Ursachen wäre unmittelbar praxisrelevant, da Hilfen sinnvollerweise bei Entstehungsmechanismen ansetzen. Auch hier gilt: Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie (Lewin 1951).

Was die nachweisbaren Anstiege bei Partnerschaftsgewalt und sexueller Gewalt beziehungsweise sexueller Ausbeutung von Jugendlichen oder Kindern angeht, besteht im Hinblick auf eventuelle neue Wellen der Pandemie oder andere Krisen ebenfalls Lernbedarf. Ein Ansatz hierfür ergibt sich aus dem Befund, dass manche Jugendämter trotz der Pandemie niedrigschwellige zusätzliche Hilfen entwickeln und anbieten konnten, während dies anderen nicht gelungen zu sein scheint (Witte/Kindler 2022). Auf dieser Grundlage wäre nach günstigen und ungünstigen Bedingungen in Institutionen und nach dem Grad der Klient:innenorientierung in Krisen zu fragen. Ein anderer Gedanke, der bereits in der Forschung auftaucht (Usher u.a. 2021), ist, mit kommunalen sozialen Krisenstäben zu experimentieren, die in Krisenzeiten die Ressourcen für Angebotsausweitungen bündeln können.

Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (2021): Kinderschutz in der Pandemie – eine datenbasierte Zwischenbilanz. KomDat – Kommentierte Daten der Kinder- & Jugendhilfe, H. 2021/2, S. 10–15

Belsky, Jay (1993): Etiology of child maltreatment: A developmental-ecological analysis. In: Psychological Bulletin, H. 114, S. 413–434

Bruns, Nora u.a. (2022): Impact of the First COVID Lockdown on Accident- and Injury-Related Pediatric Intensive Care Admissions in Germany – A Multicenter Study. In: Children, 9. Jg., H. 3, 363

Bujard, Martin u.a. (2021): Belastungen von Kindern, Jugendlichen und Eltern während der Corona-Pandemie. Wiesbaden

Ebert, Cara / Steinert, Janina (2021): Prevalence and risk factors of violence against women and children during COVID-19, Germany. Bulletin of the World Health Organization, H. 99, S. 429–438

ECPAT Deutschland e.V. (2021): Welche Auswirkungen hat die Covid-19-Pandemie auf die sexuelle Ausbeutung von Kindern? ECPAT Positionspapier

Fabbri, Camilla u.a. (2021): Modelling the effect of the COVID-19 pandemic on violent discipline against children. In: Child Abuse & Neglect, H. 116, Part 2, 104897

Filatkina, Natalia / Bergmann, Franziska (2021): Angstkonstruktionen. Kulturwissen¬schaftliche Annäherungen an eine Zeitdiagnose. Berlin/Boston

Kindler, Heinz (2017): What explains dangerous parenting and how can it be changed? In: Zeitschrift für Familienforschung: Parents in the Spotlight, Sonderheft 11, S. 195–214

Kourti, Anastasia u.a. (2021): Domestic violence during the COVID-19 pandemic: a systematic review. In: Trauma, Violence, & Abuse, I-27

Lewin, Kurt (1951): Field Theory in Social Science. Selected Theoretical Papers. New York

Machlin, Laura u.a (2021, im Erscheinen): Predictors of family violence in North Carolina following initial COVID-19 stay-at-home orders. In: Child Abuse & Neglect

Mairhofer, Andreas u.a. (2020): Kinder- und Jugendhilfe in Zeiten der Corona-Pandemie. DJI-Jugendhilfeb@rometer bei Jugendämtern. München

Marmor, Amitai / Cohen, Noa / Katz, Carmit (2021, im Erscheinen): Child maltreatment during CoViD-19: Key conclusions and future directions based on a systematic literature review. Trauma, Violence, & Abuse

Samji, Hasina u.a. (2021, im Erscheinen): Mental health impacts of the COVID-19 pandemic on children and youth – a systematic review. In: Child and adolescent mental health

Scott, Samantha u.a. (2021): „I Hate This“: A Qualitative Analysis of Adolescents’ Self-Reported Challenges During the COVID-19 Pandemic. In: Journal of Adolescent Health, H. 68, S. 262–269

Thorell, Lisa u.a. (2021, im Erscheinen): Parental experiences of homeschooling during the COVID-19 pandemic: Differences between seven European countries and between children with and without mental health conditions. In: European Child & Adolescent Psychiatry

Usher, Kim u.a. (2021): COVID-19 and family violence: Is this a perfect storm? In: Intern ational Journal of Mental Health Nursing, 30. Jg., H. 4, S. 1022–1032

Vogelbacher, Markus / Attig, Manja (2021): Carrying the Burden Into the Pandemic – Effects of Social Disparities on Elementary Students’ Parents’ Perception of Supporting Abilities and Emotional Stress During the COVID-19 Lockdown. In: Frontiers in Psychology, H. 12

Witte, Susanne / Kindler, Heinz (2022): Strengths and problems of families in contact with child protective services during the COVID-19 pandemic. In: Journal of Family Research, 34. Jg., H. 1, S. 394–428

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 2/2022 von DJI Impulse „Der lange Weg aus der Pandemie: Wie sich die Coronakrise auf Jugendliche auswirkt und welche Unterstützung sie benötigen“ (Download PDF).

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