Kinderschutz mit blinden Flecken

Gewalt gegenüber Kindern kann erst besser bekämpft werden, wenn grundlegende Fragen umfassend empirisch geklärt werden: sowohl zum Ausmaß von Vernachlässigung, Missbrauch und Misshandlung als auch zur Wirksamkeit von Schutzkonzepten.


Von Susanne Witte[1], Heinz Kindler[2] und Regine Derr[3]

Pflege und Erziehung von Kindern sind natürliches Recht der Eltern und eine Pflicht, die vorrangig ihnen obliegt. Artikel 6 Absatz 2 des Grundgesetzes hebt die Bedeutung und die Rechte der Eltern hervor. Er betont aber auch – wie Artikel 7 der UN-Kinderrechtskonvention – die Verpflichtung von Eltern, für das Wohlergehen ihrer Kinder zu sorgen. Was aber, wenn Eltern dieser Verpflichtung nicht oder nur ungenügend nachkommen? Wenn gerade die Familie, in der Kinder Geborgenheit erfahren sollen, bedrohlich für sie ist? Wann darf und muss hier eingegriffen werden? Und wie kann betroffenen Kindern geholfen werden? Diese Fragen stellen sich in der Praxis des Kinderschutzes, sind aber auch Gegenstand eines eigenständigen Forschungsfeldes geworden: der Kinderschutzforschung. Seit den 1980er- Jahren wurden zu diesem Themenfeld am Deutschen Jugendinstitut (DJI) zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt (Wahl u.a. 1980, Helming/Blüml/ Schattner 1997), darunter auch Studien, in denen die Praxis des Kinderschutzes in Deutschland mit der in anderen Ländern verglichen wurde (Witte u.a. 2022).

Sexuelle Gewalt ist in den Fokus der Debatte gerückt

Aus rechtlicher Perspektive wird Kindeswohlgefährdung umfassend als Gefährdung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohlergehens von Kindern definiert (§ 1666 Absatz 1 BGB). Dabei geht es nicht lediglich um problematisches Erziehungsverhalten oder ungünstige Lebensumstände, sondern um solche, die vorhersehbar und mit ziemlicher Sicherheit zu erheblichen negativen Folgen für betroffene Kinder führen (BGH, Beschluss vom 23.11.2016 – XII ZB 149/16, Meysen/Eschelbach 2012). In Forschung und Praxis werden bestimmte Formen von Kindeswohlgefährdung unterschieden: körperliche Misshandlung, psychische Misshandlung, sexueller Missbrauch, Vernachlässigung (Leeb u.a. 2008). Auch ein Aufwachsen mit wiederholter und verletzungsträchtiger Gewalt zwischen den Eltern oder zwischen elterlichen Bezugspersonen kann als Gefährdung des Kindeswohls angesehen werden (Kindler 2015).

Insbesondere sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist in den letzten Jahrzehnten zunehmend in den Fokus des fachlichen und öffentlichen Diskurses gerückt. In den 1990er-Jahren stand in Deutschland der sexuelle Missbrauch von Mädchen durch ihre Väter im Mittelpunkt, angeregt durch die Veröffentlichung eines Gutachtens zum Sechsten Kinder- und Jugendbericht über sexuellen Missbrauch in der Familie und ein Buch, in dem die Erfahrungen betroffener Mädchen beschrieben wurden (Kavemann/Lohstöter 1991). Seit dem Bekanntwerden von Fällen sexuellen Missbrauchs in kirchlichen Internaten und der Odenwaldschule im Jahr 2010 werden vermehrt auch Institutionen als Tatorte thematisiert (Andresen/Heitmeyer 2012).

DJI-Forschende entwickeln Praxishilfen zur Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen

In der Praxis ist es häufig nicht einfach, eine Kindeswohlgefährdung zu erkennen. Vor dieser Herausforderung stehen Erzieher:innen und Lehrer:innen, die im alltäglichen Kontakt mit Kindern und Familien sind, aber auch Fachkräfte im Jugendamt und an Familiengerichten, die das staatliche Wächteramt in erster Linie ausüben. Bei der Einschätzung sind sie mit hohen Anforderungen konfrontiert: Sie sollen die Gefährdung zutreffend beurteilen, den Kontakt zur Familie aufrechterhalten und Eltern sowie Kinder verständlich informieren, ihre Meinungen und Wünsche anhören und bei Entscheidungen berücksichtigen. Zudem gilt es, Gefahren zu vermeiden, die durch den Einschätzungsprozess auftreten können – etwa die, dass Eltern Druck auf ihre Kinder ausüben, weil sie verhindern wollen, dass die Behörden von innerfamiliärer Gewalt erfahren.

Bei der Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung ist die Zusammenarbeit zwischen Akteuren aus dem Gesundheits- und Bildungssystem sowie der Kinder- und Jugendhilfe unerlässlich.

Zur Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen wurde am DJI über die Jahre eine Vielzahl von Materialien und Praxishilfen entwickelt. Dazu gehört unter anderem das „Handbuch Kindeswohlgefährdung“, das Fachkräften bei Jugendämtern, Familiengerichten und der freien Kinderund Jugendhilfe wissenschaftlich fundierte Hinweise für mehr Handlungssicherheit bei der Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung bietet (Kindler u.a. 2006). Hinzu kommen Veröffentlichungen über die Besonderheiten der Gefährdungseinschätzung bei Jugendlichen (Lillig 2012) und Praxisempfehlungen zum Kinderschutz bei Familien mit radikaler und fundamentalistischer Weltanschauung, wie sie im Projekt „Radikal, fundamentalistisch, anders – Fachkräfte im Kontakt“ (RaFik) in Kooperation mit dem juristischen Forschungszentrum International Centre for Socio- Legal Studies (SOCLES) und dem Verein zur interkulturellen Bildung und Gewaltprävention Cultures Interactive entwickelt wurden (Meysen u.a. 2022). Von großer Bedeutung bei der Einschätzung einer (möglichen) Kindeswohlgefährdung ist die Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Akteuren aus dem Gesundheits- und Bildungssystem sowie der Kinder- und Jugendhilfe. Diesem Thema hat sich ab der Jahrtausendwende 14 Jahre lang das „Informationszentrum Kindesmisshandlung/Kindesvernachlässigung“ am DJI gewidmet (IzKK 2013–2014).

Das Risiko, dass Kinder mehrfach Opfer von Gewalt werden, ist groß

Wird eine Gefährdung des Kindeswohls festgestellt, schließt sich die Frage an, wie betroffene Kinder am besten geschützt und unterstützt werden können. Ein Entzug elterlicher Sorgerechte ist nur möglich und sinnvoll, wenn andere Maßnahmen zur Abwendung der Gefährdung von den Eltern nicht angenommen werden oder wenn vorhersehbar ist, dass sie die Gefährdung nicht abwenden können (§ 1666 BGB). Mehrheitlich werden daher zunächst mit den Eltern freiwillige Vereinbarungen zu Hilfen und Schutzmaßnahmen für ihre Kinder getroffen. Wie häufig es dennoch weiterhin Hinweise auf eine Gefährdung gibt, haben Forschende des DJI und der Universität Koblenz- Landau untersucht. Die Ergebnisse des Projekts über Kinderschutzkarrieren (2017 bis 2021) zeigen, dass innerhalb von zwei Jahren bei einem Drittel der Kinder dem Jugendamt erneut die Vermutung einer Gefährdung mitgeteilt wurde (Witte/Kindler 2024, im Erscheinen).

Auch sogenannte familienersetzende Maßnahmen können ein Risiko mit sich bringen. So verweisen Befunde des Projektes „Prävention von Reviktimisierung bei sexuell missbrauch ten Jugendlichen in Fremdunterbringung“ (PRÄVIK), das Forschende des DJI und des Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts für Geschlechterfragen in Freiburg durchführten, auf eine hohe Reviktimisierungsrate von Mädchen: Die Wahrscheinlichkeit, dass sie im weiteren Lebenslauf erneut sexuelle Übergriffe erfahren, ist deutlich erhöht – selbst wenn sie nach sexueller Gewalt in der Familie in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht waren (Helfferich u.a. 2017).

Umso wichtiger sind wirksame Schutzkonzepte in Einrichtungen wie Schulen und inklusiven Wohngruppen der Kinder- und Jugendhilfe, die aktuell am DJI gemeinsam mit der Hochschule Hannover, der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, dem International Centre for Socio-Legal Studies (SOCLES), SOS-Kinderdorf und dem Kinderschutz München untersucht werden.

Bei einem Drittel der gefährdeten Kinder wird dem Jugendamt innerhalb von zwei Jahren erneut die Vermutung einer Kindeswohlgefährdung mitgeteilt.

Es fehlen Daten, um die Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen zu beurteilen

Studien, die Effekte unterschiedlicher Schutz- und Hilfsmaßnahmen auf Kinder und ihre Familien untersuchen, sind in Deutschland bislang rar. Solche Studien erfordern ein Forschungsdesign, bei dem zumindest eine Interventions- und eine Vergleichsgruppe betrachtet werden. Auf einem solchen Ansatz basieren Untersuchungen des DJI zusammen mit Kooperationspartner:innen zur Wirksamkeit von Schutzkonzepten gegen sexuelle Gewalt in Schulen und stationären Einrichtungen der Erziehungshilfe. Sie konnten zeigen, dass das Präventionsprogramm Prävikibs sexuelle Viktimisierung verringern und die Hilfesuche Betroffener fördern kann (Grieser u.a. 2023, Hartl/Derr/Mosser 2019).

Inwieweit veränderte gesetzliche Rahmenbedingungen zum Kinderschutz in der Praxis die angestrebten Wirkungen erzielen und welche nicht beabsichtigten Effekte sie möglicherweise haben, untersuchten Forschende des DJI und der Freien Universität Berlin im Rahmen der Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes. Sie nutzten dazu einen multiperspektivischen und methodischen Ansatz, mit dem sie zeigen konnten, wie verschiedene Institutionen und Berufsgruppen, etwa Jugendämter, Schulen, Ärzt:innen und gesetzliche Betreuer:innen, die rechtlichen Änderungen wahrnehmen und umsetzen (Mühlmann/ Pothmann/Kopp 2015).

Ein Aufwachsen ohne Gewalt und Vernachlässigung stellt ein zentrales Kinderrecht dar. Ist dieses Recht bedroht, bleibt ein angemessenes Eingreifen in der Praxis allerdings eine große Herausforderung, die von Unsicherheiten bezüglich der Auswahl passender und das Kindeswohl fördernder Schutz- und Hilfsmaßnahmen geprägt ist. Ergebnisse aus der bisherigen Forschung sind hier zwar hilfreich, um Kinder und Jugendliche besser zu schützen und die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen. Noch aber fehlen grundlegende Daten, um die Wirksamkeit des Schutzes von Kindern und Jugendlichen in Deutschland besser beurteilen zu können. Dies sind insbesondere Daten zum Verhältnis zwischen Hell- und Dunkelfeld in Bezug auf sexuelle Gewalt, Misshandlung und Vernachlässigung, das heißt zwischen jenen Fällen, die dem Jugendamt bekannt sind, und denen, die nicht bekannt sind. Darüber hinaus werden dringend Daten benötigt zum Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen, die Schutz und Hilfe durch das Jugendamt erfahren haben. Erst auf Grundlage solcher Daten kann beurteilt werden, wie gut wir als Gesellschaft unsere primären Ziele im Kinderschutz, Kinder zu schützen und die Folgen von Gewalt und Vernachlässigung abzumildern, erreichen und inwiefern weiterer Handlungsbedarf besteht.

Andresen, Sabine/Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.) (2012): Zerstörerische Vorgänge. Missachtung und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Institutionen. Weinheim/Basel

Erdmann, Julia / Mühlmann, Thomas (2022): Auf den zweiten Blick – eine Coronabilanz in Sachen Kinderschutz. In: KomDat, H. 2, S. 9–16

Grieser, Felicia u.a. (2023): Wirksamkeit institutioneller Prävention und Intervention bei sexualisierter Gewalt. In: Soziale Passagen, H. 15, S. 275–279

Hartl, Johann/Derr, Regine/Mosser, Peter (2019): Prävention von sexualisierter Gewalt in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe – Ergebnisse der wissenschaftlichen Evaluation des Programms PräviKIBS. In: Dekker, Arne u.a. (Hrsg.): Perspektiven auf sexualisierte Gewalt. Einsichten aus Forschung und Praxis. Wiesbaden, S. 241–259

Häuser, Winfried u.a. (2011): Misshandlungen in Kindheit und Jugend. Ergebnisse einer Umfrage in einer repräsentativen Stichprobe der deutschen Bevölkerung. In: Deutsches Ärzteblatt, 108. Jg., H. 17, S. 287–294

Helfferich, Cornelia u.a. (2017): Stigma macht vulnerabel, gute Beziehungen schützen. Sexueller Missbrauch in den Entwicklungsverläufen von jugendlichen Mädchen in der stationären westdeutschen Großstadt 1985–2014. Weinheim Jugendhilfe. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 12. Jg., H. 3, S. 261–275

Helming, Elisabeth/Blüml, Herbert/Schattner, Heinz (1997): Handbuch Sozialpädagogische Familienhilfe. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Band 182, Stuttgart IzKK (2013–2014): Konstruktiv kooperieren im Kinderschutz. In: IzKK-Nachrichten, H. 1

Jud, Andreas/Kindler, Heinz (2019): Übersicht Forschungsstand sexualisierte Gewalt anKindern und Jugendlichen im deutschsprachigen Raum. Berlin

Kavemann, Barbara / Lohstöter, Ingrid (1991): Väter als Täter. Sexuelle Gewalt gegen Mädchen: „Erinnerungen sind wie eine Zeitbombe“. Reinbek

Kindler, Heinz (2015): Miterlebte Partnerschaftsgewalt und Kindeswohl. Ein Update aus der Forschung. In: CORAktuell, H. 38 (08/2015), S. 8–10

Kindler, Heinz U.A. (2006): Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD). München

Leeb, Rebecca T. u.a. (2008): Child maltreatment surveillance. Uniform definitions for public health. Atlanta, Georgia.

Lillig, Susanna (2012): Wege zur Beurteilung von Gefährdungen im Jugendalter. Eine Arbeitshilfe des Informationszentrums Kindesmisshandlung/Kindesvernachlässigung. München

Meysen, Thomas/Eschelbach, Diana (2012): Das neue Bundeskinderschutzgesetz. Baden-Baden

Meysen, Thomas u.a. (2022): Fachliches Handeln zum Wohl von Kindern und Jugendlichen im Kontakt mit „anderer“, fundamentalistischer und radikaler Religiosität und Weltanschauung. Handlungsempfehlungen aufbauend auf zentralen Erkenntnissen des Projekts „Radikal, fundamentalistisch, anders – Fachkräfte im Kontakt“ (RaFiK). München

Mühlmann, Thomas/Pothmann, Jens/ Kopp, Katharina (2015): Wissenschaftliche Grundlagen für die Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes. Bericht der wissenschaftlichen Begleitung der Kooperationsplattform Evaluation Bundeskinderschutzgesetz. Dortmund

Wahl, Klaus u.a. (1980): Familien sind anders. Reinbek

Witt, Andreas u.a. (2017): Child maltreatment in Germany. Prevalence rates in the general population. In: Child and Adolescent Psychiatry and Mental Health, 11. Jg., S. 47

Witte, Susanne u.a. (2022): Child maltreatment investigations: Comparing children, families, and reasons for referral in three European countries. In: Child Abuse & Neglect, 132. Jg., 105805

Witte, Susanne/Kindler, Heinz (2024, im Erscheinen): Schutz- und Hilfsmaßnahmen, Reviktimisierung und kindliches Wohlergehen nach der Vorstellung in der Kinderschutzambulanz: Ergebnisse aus der kombinierten Auswertung mit Jugendamtsakten. In: Schrapper, Christian/Kindler, Heinz (Hrsg.): Kinderschutzkarrieren. Rekonstruktion von organisationalen Entwicklungen, Gefährdungserfahrungen,diagnostischen Vorgehensweisen, Interventionen und biographischen Verläufen in einer westdeutschen Großstadt 1985–2014. Weinheim

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 2/2023 von DJI Impulse „60 Jahre Forschung über Kinder, Jugendliche, Familien und die Institutionen, die sie im Leben begleiten“ (Download PDF[4]).

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