Wie prekäre Lebenslagen und Bildungsverläufe zusammenhängen
DJI-Wissenschaftlerinnen analysieren Situation von Münchner Schülerinnen und Schülern am Übergang ins Sekundarschulsystem
Trotz einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung weisen die Indikatoren im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung von 2021 darauf hin, dass der Anteil von Kindern und jungen Erwachsenen in Armut vergleichsweise stabil blieb. Besonders betroffen sind Kinder mit vielen Geschwistern, aus Migrationsfamilien, mit nur einem Elternteil oder mit Eltern, die wenig verdienen, arbeitssuchend und/oder auf Transferleistungen angewiesen sind. München als wohlhabende Stadt mit guten Beschäftigungs- und entsprechenden Verdienstmöglichkeiten steht exemplarisch für diese Entwicklung.
Der vorliegende Bericht „Zusammenhänge zwischen prekären Lebenslagen und Bildungsverläufen“ des Deutschen Jugendinstituts (DJI) knüpft an Armuts- und Belastungslagen von Münchner Familien an. Die Wissenschaftlerinnen konnten wertvolle Erkenntnisse gewinnen, aus denen sich zentrale Handlungsempfehlungen für die beteiligten Akteure Münchens ableiten lassen. Das betrifft zum einen die Rolle außerunterrichtlicher Angebote sowie die interinstitutionelle und multiprofessionelle Zusammenarbeit, die spätestens mit dem Ausbau von Ganztagsschulen als probates Mittel zum Abbau herkunftsbedingter Bildungsbarrieren gelten.
Kinder sind einem überdurchschnittlichen Armutsrisiko ausgesetzt
Bildungsbeteiligung und -erfolg eines Kindes sind in Deutschland nach wie vor stark an seine soziale Herkunft gekoppelt. Dies zeigen die Ergebnisse der PISA-Studien. Die Frage, wie prekäre Lebenslagen und Bildungsverläufe zusammenhängen, ist damit immer noch aktuell und mit der Coronapandemie dringlicher geworden. Insbesondere Kinderarmut bedeutet mehr als über wenig Geld zu verfügen. Armut zeigt sich in zahlreichen Lebensbereichen und kann Kinder unterschiedlich benachteiligen und belasten sowie ihr Leistungsvermögen und ihren Bildungsverlauf beeinträchtigen.
Für die von der Stadt München geförderte Studie wurden vier Grundschulen unterschiedlicher Münchner Sozialräume einbezogen. Von besonderem Interesse ist dabei eine der wichtigsten Weichenstellungen im Bildungsverlauf: der Übergang von der Grundschule auf eine weiterführende Schule der Sekundarstufe I. Die Zusammenarbeit zwischen Schulakteuren und Elternhaus erwies sich als Dreh- und Angelpunkt. Die Forscherinnen konnten deutlich machen, dass Lehrkräfte, Schulsozialarbeit und Eltern nicht so zueinander finden können, wie dies für die Kinder notwendig wäre. Dort, wo die Zusammenarbeit gelingt, wird diese als spürbare Unterstützung empfunden und wertgeschätzt.
Armut aus der Perspektive von Schulakteuren und Familien
„Wir legten den Fokus zum einen darauf, wie Armut aus der Perspektive von Schulakteuren wahrgenommen und pädagogisch bearbeitet wird und wie aus ihrer Sicht vorhandene Unterstützungsleistungen an den Schulen für armutsbetroffene Familien verbessert werden könnten,“ erläutert DJI-Wissenschaftlerin Dr. Claudia Zerle-Elsäßer.
Ein weiterer Schwerpunkt ist die Sicht der Familien mit besonderem Fokus auf die Kinder. Sie wurden nach ihren Erfahrungen im Bildungssystem, nach ihren Erwartungen an die Schule sowie zu ihren Vorstellungen über ihren weiteren Bildungs- und Lebensweg befragt. Darüber hinaus analysierten die Forscherinnen, welchen Herausforderungen diese Familien im Schulkontext, auch unter Pandemiebedingungen, gegenüberstehen und welche Unterstützungsbedarfe sie formulieren.
Hürden auf dem Bildungsweg der Kinder
Die Befragungen machten deutlich, dass die Eltern trotz oder gerade wegen ihrer prekären Lebenslagen sehr ambitioniert sind bezogen auf die Eröffnung von Bildungswegen für ihre Kinder. Die Viertklässlerinnen und Viertklässler wünschen sich klar einen Übertritt mindestens auf die Realschule, besser jedoch auf ein Gymnasium, mit der Mittelschule als letzter Option. Die befragten Familien versuchten dementsprechend ihre Kinder zu unterstützen. Dabei stießen sie jedoch häufig auf unüberwindbare Hürden, unter anderem aufgrund von fehlenden Sprachkenntnissen oder fehlendem Wissen über Zugänge zu bildungsunterstützenden Angeboten. Daraus folgte, dass die Kinder den Übertritt nicht oder nur schwer erreichen konnten.
In der Studie haben sich weitere Unterstützungsangebote als besonders wertvoll für die Familien herausgestellt. Insbesondere sind dies direkt an die Schule angebundene, kostenfreie Mahlzeiten, über die Schulsozialarbeit organisierte kostenfreie Freizeitangebote oder eine unbürokratische Übernahme von Auslagen für Schulmaterialien oder Ausflüge. Von den Schulakteuren wird das Angebot als zu gering und als nicht bedarfsgerecht eingeschätzt. „Eine deutliche Unterstützungslücke besteht jedoch sowohl aus Sicht der Lehrpersonen als auch der Eltern an unterrichtsbezogenen und lernunterstützenden Angeboten, wie einer den konkreten Schulstoff verfestigenden Nachhilfe sowie von eher allgemeineren Förder- und insbesondere von Sprachkursen“, so DJI-Wissenschaftlerin Dr. Christine Steiner.
Die Studie verdeutlicht, dass Armut und Ressourcenknappheit bei den Familien von den Schulakteuren häufig nicht wahrgenommen werden. Auch die Familien selbst gehen aus Angst vor Stigmatisierung mit ihrer prekären Lage nicht offen um. Das bedeutet, dass letztlich nur sichergestellt werden kann, dass die Leistungen auch ankommen, wenn sie für möglichst viele Kinder verfügbar sind. Durch die eingeschränkte Personalsituation können bereits jetzt nicht alle Schülerinnen und Schüler angemessen im Unterricht oder durch Angebote berücksichtigt werden. Damit geraten gerade die Kinder aus dem Blick, für die eine gezielte Lernunterstützung ausreichen würde, um den nächsthöheren Bildungsweg einzuschlagen.
Zusammenhänge zwischen prekären Lebenslagen und Bildungsverläufen. Die Situation von Schülerinnen und Schülern am Übergang von der Grundschule in die Sekundarschule, Klara Lüring, Ramona Schneider, Hannah Steinberg, Christine Steiner, Claudia Zerle-Elsäßer, 110 Seiten, ISBN 978-3-86379-439-2[1]DJI-Projekt Zusammenhänge zwischen prekären Lebenslagen und Bildungsverläufen[2]Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung[3]
Kontakt
Dr. Claudia Zerle-Elsäßer
Fachgruppe „Lebenslagen und Lebensführung von Familien“
Tel.: 089/62306-317
zerle@dji.de
Dr. Christine Steiner
Forschungsschwerpunkt „Übergänge im Jugendalter“
Tel.: 089/62306-227
steiner@dji.de
Sonja Waldschuk
Abteilung Medien und Kommunikation
Tel.: 089/62306-173
waldschuk@dji.de