„Gefährdungseinschätzungen sind nur die halbe Miete“

Das neue Kinder- und Jugendstärkungsgesetz soll die Situation von benachteiligten Kindern verbessern. Wie DJI-Kinderschutz-Experte Prof. Dr. Heinz Kindler die geplanten Änderungen bewertet

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19. April 2021 -

In Deutschland waren im Jahr 2019 etwa 1,3 Millionen Kinder und Jugendliche im Alter von bis zu 27 Jahren auf Unterstützung durch die Kinder- und Jugendhilfe angewiesen, zeigen Daten des Statistischen Bundesamts: Kinder, die im Heim oder bei einer Pflegefamilie leben, zu Hause vernachlässigt werden, Gewalt erfahren, eine Behinderung haben oder auf der Straße leben. Um ihre Situation zu verbessern, arbeitet die Bunderegierung an einem neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG), über das der Bundestag am kommenden Donnerstag, den 22. April 2021, abstimmt. Für viele Änderungen gibt es bereits einen breiten Konsens, doch nicht alle stehen endgültig fest, zumal sich abschließend noch der Bundesrat damit befassen muss.

Das modernisierte Gesetz sieht unter anderem bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung eine engere Zusammenarbeit zwischen externen Sachverständigen und dem Jugendamt vor. Wenn beispielsweise Ärztinnen und Ärzten den Verdacht geäußert haben, dass eine Verletzung eines Kindes auf eine Misshandlung hindeute, sollen sie – anders als bisher – vom Jugendamt eine Rückmeldung darüber erhalten, wie es mit dem Kind und der Familie weitergeht und gegebenenfalls in Fallbesprechungen einbezogen werden.

Kinderschutz-Experte fordert mehr Partizipation von jungen Menschen

Prof. Dr. Heinz Kindler, Kinderschutz-Experte am Deutschen Jugendinstitut (DJI) hält dies für eine wichtige Weiterentwicklung: „Es ist sinnvoll, bei Gefährdungseinschätzungen künftig mehr externen Sachverstand einzubeziehen“. In Jugendämtern in England und den Niederlanden sei dies bereits bewährte Praxis, wie eine DJI-Studie  zeigt. Allerdings ergänzt Kindler kritisch: „Bessere Gefährdungseinschätzungen sind nur die halbe Miete. Nach wie vor gibt es im deutschen Kinderschutzrecht keinen Anreiz für Jugendämter, Präventionskonzepte und Hilfen mit geprüfter Wirksamkeit einzusetzen, darauf verweist auch der aktuelle Familienbericht “. Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen sei zudem entscheidend, auch die betroffenen Kinder und Jugendliche intensiv einzubeziehen. Die Praxis der Jugendämter stehe hierbei aber noch vor großen Herausforderungen. „Daher wäre es gut, wenn der Gesetzgeber das moderne Kinderschutzrecht mit einem Bundesmodellprogramm zur Förderung der Partizipation von Kindern und Jugendlichen im Kinderschutz flankieren würde“, fordert Kindler.

Externe Ansprechpersonen und wirksame Schutzkonzepte sind wichtig

Durch das neue Kinder- und Jugendstärkungsgesetz soll auch die Aufsicht von Heimen optimiert werden, etwa durch anlasslose und unangekündigte Kontrollen. Darüber hinaus ist vorgesehen, die Beschwerdemöglichkeiten für Heimkinder zu erweitern, so dass sie sich nicht mehr nur an eine Fachkraft oder die Heimleitung, sondern auch an unabhängige externe Stellen wenden können. „Externe Ansprechpersonen, aber auch eine qualifizierte und handlungsfähige Heimaufsicht sowie gute Schutzkonzepte sind enorm wichtig. Dies unterstreicht das Gesetz, und darüber bin ich froh“, sagt Kindler. Denn Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen seien besonders verletzlich und gefährdet. Dennoch sieht er angesichts der sexuellen Übergriffe in Heimen, vor allem unter Jugendlichen, noch weitergehenden Handlungsbedarf: „Wir müssen die Wirksamkeit von Schutzkonzepten weiter untersuchen, um zu überprüfen, ob das Ziel des Gesetzes auch wirklich eingelöst wird“.

Hilfeplanung soll Geschwister stärker berücksichtigen

Für Pflegekinder sieht das Gesetz zwei weitreichende Änderungen vor: Zum einen sollen Geschwister künftig möglichst zusammenbleiben. Zum anderen sollen Familiengerichte – unter strengen Voraussetzungen und bei einem gleichzeitigen Rechtsanspruch der leiblichen Eltern auf Beratung – eine dauerhafte Unterbringung in einer Pflegefamilie anordnen können. Den Kindern soll damit die Sorge genommen werden, aus ihren neuen Strukturen herausgerissen zu werden. „Geschwisterbeziehungen sind oft die dauerhaftesten Beziehungen im Leben eines Menschen. Daher ist es richtig, sie bei der Hilfeplanung zu berücksichtigen“, sagt Kindler. Wichtig sei auch die Stärkung der Kontinuität bei Pflegekindern, um deren Lebensmittelpunkt immer wieder vor Gericht gestritten werde. Es gehe dabei nicht darum, mehr Kinder aus Familien herauszunehmen. Ganz im Gegenteil: „Es gibt einen breiten fachlichen Konsens, dass die Herkunftseltern mit ambulanten Hilfen dabei unterstützt werden, ihre Erziehungsfähigkeit zu stärken. Gelingt dies aber nicht, so sollen Pflegekinder nicht durch anhaltende Streitigkeiten zerrieben werden“.
Darüber hinaus sollen Jugendliche, die im Heim oder bei einer Pflegefamilie leben und bereits Geld verdienen, sich künftig höchstens mit 25 Prozent ihres Lohns an den Kosten für ihre Unterbringung beteiligen müssen, statt bisher mit 75 Prozent.

Bürokratische Hürden für Hilfebedürftige abbauen

Zur Verbesserung der Prävention soll das neue Gesetz Familien, Kindern und Jugendlichen mit besonderen Belastungen leichtere und schnellere Hilfe ermöglichen: Geplant ist, Angebote der Versorgung und Betreuung für Kinder und Jugendliche in Notsituationen auszubauen. Junge Menschen sollen sich zudem uneingeschränkt vom Jugendamt beraten lassen können – auch ohne Einwilligung der Eltern, sofern dies dem Zweck der Beratung entgegenstünde. Außerdem sind unabhängige Ombudsstellen geplant, an die sich Familien wenden können, wenn sie Konflikte mit dem Jugendamt haben.

Schließlich soll die Kinder- und Jugendhilfe bis zum Jahr 2028 inklusiv werden und für alle Kinder zuständig sein – mit und ohne Behinderung. Bereits ab 2021 ist geplant, dass alle Kinder gemeinsam Kitas besuchen. Ab dem Jahr 2024 sollen „Verfahrenslotsen“ Eltern dabei unterstützen, die Hilfen zu bekommen, die ihnen zustehen. Bislang sind, je nach Art der Behinderung, unterschiedliche Leistungsträger für Kinder zuständig, was die Hilfe aus einer Hand erschwert.


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