Veränderte Kindheit: Über die Bedeutung der Frühen Bildung für die Biografie von Kindern
Beim Online-Kongress mit dem Titel "Potenziale der Kindheit" von Bundesbildungsministerium und DJI nahmen mehr als 400 Personen teil - ein Tagungsbericht
Die Kindertagesbetreuung wurde in den vergangenen beiden Jahrzehnten massiv ausgebaut: Die Zahl der Einrichtungen ist zwischen den Jahren 2007 und 2020 um 18 Prozent auf knapp 58.000 gestiegen. Etwa 3,8 Millionen Kinder werden dort aktuell betreut, 25 Prozent mehr als noch 13 Jahre zuvor. Diese Expansion wurde mitunter beeinflusst durch die enttäuschende Platzierung Deutschlands bei der ersten PISA-Studie Ende 2001 und eine neue Hinwendung der Hirnforschung und der Ökonomie zur Frühen Bildung, wie DJI-Direktor Professor Dr. Thomas Rauschenbach in seiner Eröffnungsrede beim Online-Fachkongress „Potenziale der Kindheit - Perspektiven der Frühen Bildung" skizzierte. Mehr als 400 Fachleute aus Fachpraxis, Politik und Wissenschaft haben an dem Online-Kongress des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und des Deutschen Jugendinstituts (DJI) teilgenommen, um die Vorträge und Diskussionsrunden über die Bedeutung der Frühen Bildung für die Bildungsbiografie von Kindern im Livestream zu verfolgen.
„Die Kindheit verändert sich in einem Ausmaß, das wir nur durch die Einführung der Schulpflicht kennen“
„Die ersten Lebensjahre von Kindern und die damit verbundene Förderung und Bildung erlangten eine gesellschaftliche Bedeutung, die wenige Jahre zuvor – jedenfalls in Westdeutschland – nicht denkbar war“, sagte Rauschenbach. Das neue Aufwachsen „in einem Nebeneinander von privat-familialer und öffentlicher Verantwortung“ hätte wie kein anderes Bildungsthema in kurzer Zeit viele politische Aktivitäten nach sich gezogen, wie etwa die Einführung der Rechtsansprüche auf einen Betreuungsplatz. „Frühe Kindheit verändert sich durch diese Prozesse der Institutionalisierung in einem Ausmaß, wie wir das nur durch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht kennen“, so Rauschenbach.
Hochwertige Kindertagesbetreuung hat positive Effekte auf die sprachlich-kognitive und sozial-emotionale Entwicklung von Kindern
Um diesen Wandel der Kindheit zu veranschaulichen, startete Professor Dr. Bernhard Kalicki, Leiter der Abteilung „Kinder und Kinderbetreuung“ am DJI, mit einer Live-Umfrage in seinen Vortrag: Dabei ging es um Fragen zur eigenen Kindheit im Vergleich zu der, heutiger Kinder. Im Anschluss skizzierte er den Wandel der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung und die treibenden Faktoren: Höheres Ausbildungsniveau und mehr Erwerbsbeteiligung von Müttern sowie ein Einstellungswandel im Hinblick auf die institutionelle Betreuung von Kindern. „Es ist mittlerweile breiter Konsens, dass Frühe Bildung eine gesellschaftliche Aufgabe ist“, sagte Kalicki und hob das große Bewusstsein für die Bildungs- und Lernpotenziale der Kindheit hervor. Die Forschung habe bei qualitativ hochwertiger Kindertagesbetreuung positive Effekte auf die sprachlich-kognitive und sozial-emotionalen Entwicklung von Kindern nachgewiesenen. Dabei komme Studien nach vor allem dem freien Spiel mit Gleichaltrigen, der Selbst- und Mitbestimmung sowie einem anregenden Umfeld und dem Wohlbefinden eine hohe Bedeutung zu.
In Kitas werden teilweise herkunftsbedingte Ungleichheiten reproduziert
Auch herkunftsbedingte Ungleichheiten, die sich durch die Corona-Pandemie zu verfestigen scheinen, und das Potenzial von Kindertageseinrichtungen, diese früh auszugleichen, wurde auf der Tagung analysiert: Professorin Dr. Tanja Betz von der Johannes- Gutenberg-Universität Mainz zeigte auf, dass Eltern mit hohem sozioökonomischem Status Angebote für Krippenkinder überproportional nutzen und es Familien mit Migrationshintergrund Studien nach bei gleichem Bedarf schwerer fällt, die raren Plätze zu ergattern. In den Einrichtungen setze sich zudem die mangelnde Durchmischung des Wohnorts fort. Von qualitativ guter Kinderbetreuung würden indes Kinder aus allen sozialen Milieus profitieren. Eine Herausforderung für die empirische Bildungsforschung sieht Betz darin, differenziert zu untersuchen, wie Einrichtungen, Familien sowie weiterer Lernumgebungen der Kinder Ungleichheiten entgegenwirken können. Dafür brauche es eine Forschung, die neben den Eltern und Fachkräften künftig auch die Perspektive der Kinder einbeziehe.
Fachkarrieren können zu Professionalisierung des pädagogischen Personals sowie zu ihrer Gewinnung und Bindung beitragen
Professorin Dr. Kirsten Fuchs-Rechlin legte den Fokus auf die pädagogischen Fachkräfte. Die Leiterin des DJI-Projekts „Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF)“ veranschaulichte, dass der Fachkräftemangel, gestiegene Anforderungen sowie die zunehmende Größe der Einrichtungen „Fachkarrieren“ den Weg ebneten und diskutierte, welches Potenzial diese für die Professionalisierung von Fachkräften sowie für ihre Gewinnung und Bindung haben könnten. Fuchs-Rechlin forderte, Fachkarrieren Einrichtungs- und Trägerspezifisch sowie mit Blick auf das Kita-Team auszugestalten und dabei auf akademische Weiterbildungen zu bauen.
Mit Kindern und Familien über Mediennutzung ins Gespräch kommen
Digitale Medien als Thema in der Kita beleuchtete Professorin Dr. Nadia Kutscher von der Universität zu Köln. Medienbildung bedeute nicht unbedingt, digitale Medien im pädagogischen Alltag einzusetzen, betonte sie mit Blick auf ein von ihr wissenschaftlich begleitetes Modellprojekt mit zwölf Kindertageseirichtungen in Nordrhein-Westfalen. Vielmehr gehe es darum, dass Kitas mit Kindern und Familien über Mediennutzung ins Gespräch kommen. Schließlich sei dabei auch die Autonomieförderung und Befähigung der Kinder zu sehen, und nicht ausschließlich Aspekte von Schutz und Sicherheit.
Nach den Vorträgen eröffnete ein Bildungsdialog mit Bundesbildungsministerin Anja Karliczek die Möglichkeit zum Austausch mit Bürgerinnen und Bürgern und der pädagogischen Praxis. Bei der abschließenden Diskussion zwischen Professorin Dr. Yvonne Anders von der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Professorin Dr. Julia Schütz, von der FernUniversität Hagen, Professorin Dr. Katharina Spieß, vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und DJI-Direktor Professor Dr. Thomas Rauschenbach, ging es mitunter darum, welche Potenziale der Frühe Bildung bisher ungenutzt blieben. Einig waren sich die Diskutantinnen und Diskutanten darin, dass die Ergebnisse der Forschung noch nicht ausreichend in den Kitas ankommen, etwa weil den Fachkräften die Zeit dafür fehle, sie in der Ausbildung zu wenig Berührungspunkte mit Forschung haben und in der Forschung der Praxistransfer zu wenig bedacht werde. Um dem entgegenzuwirken, schlug Rauschenbach vor, in jeder Kita eine Person an der Schnittstelle zur Forschung einzusetzen.
www.Potenziale-der-Kindheit.de[1]
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Uta Hofele
Abteilung Medien und Kommunikation
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