Erschwert die Pandemie den Kinderschutz?

Vor welchen Herausforderungen Kinderschutz-Fachkräfte aktuell stehen, beschreiben DJI-Wissenschaftlerinnen auf Basis eines Forschungsüberblicks.

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08. Oktober 2020 -

Während der Coronavirus-Pandemie benötigen vor allem belastete Familien mehr Unterstützung. Die Möglichkeiten zu helfen sind jedoch durch Infektionsschutzmaßnahmen eingeschränkt. Dr. Birgit Jentsch und Dr. Brigitte Schnock vom Deutsches Jugendinstitut (DJI) haben im Rahmen des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH) untersucht, welche Auswirkungen die Pandemie auf den Kinderschutz hat und wie sich die Arbeit von Fachkräften mit den aktuellen Herausforderungen verändert.

Die DJI-Wissenschaftlerinnen werteten wissenschaftliche Artikel, Positionspapiere von Berufsverbänden und erste Ergebnisse empirischer Studien aus. Ihr Fazit: „Der kontinuierliche persönliche Kontakt zwischen den Fachkräften im Kinderschutz und den Familien, der durch den Infektionsschutz besonders beeinträchtigt wird, ist schwer zu ersetzen“. Mitarbeitende in den Jugendämtern hätten trotz Einschränkungen großteils kreative Wege gefunden, ihre Aufgaben im direkten Kontakt mit den Familien zu erfüllen.

Fachkräfte müssen mit digitaler Technik ausgestattet und  geschult werden

„Doch es ist längst überfällig, digitale Beratungsformate, die derzeit erst erprobt werden, langfristig zu etablieren, um junge Menschen und Familien auch in Zeiten physischer Distanzierung zu unterstützen“, schreiben Birgit Jentsch und Brigitte Schnock in einem Artikel in der September-Ausgabe der Zeitschrift „Child Abuse and Neglect“. „Dafür müssen die Fachkräfte mit der erforderlichen Technik ausgestattet und entsprechend geschult werden“, fordern sie.

Um Hilfebedarf festzustellen, ist persönlicher Kontakt wichtig
Gleichwohl betonen die Autorinnen, dass die Online- und Telefonberatung an ihre Grenzen stoße. Dies zeigen auch die Ergebnisse des DJI-Jugendhilfebarometers , einer Online-Befragung bei Jugendämtern im April und Mai dieses Jahres: Hilfebedarf festzustellen und den Kinderschutz aufrechtzuerhalten fanden demnach ganz besonders die Mitarbeitenden der Jugendämter problematisch, die keine persönlichen Kontakte zu Familien mehr pflegen konnten.

Ob die Pandemie zu mehr Gewalt in Familien geführt hat, ist nach wie vor ungeklärt
Inwiefern Kinder während der Pandemie einem erhöhten Gefährdungsrisiko ausgesetzt waren, können die DJI-Wissenschaftlerinnen auf Basis der derzeitigen Studienlage nicht abschließend beurteilen. Die stark gestiegene Nachfrage nach Chat- und Telefonberatung für Kinder und Jugendliche, beispielsweise über die "Nummer gegen Kummer", und nach telefonischer Elternberatung am Anfang der Pandemie wurde als erster Hinweis auf ein erhöhtes Risiko für Kindeswohlgefährdungen gedeutet. Auch die Daten der Gewaltschutzambulanz des Universitätsklinikums Charité deuteten auf eine Zunahme häuslicher Gewalt und Kindesmisshandlung.

Erste Studienergebnisse, etwa des DJI-Jugendhilfebarometers oder einer im Auftrag des Bundesfamilienministeriums durchgeführten Abfrage bei Jugendämtern zeigten dann aber auf, dass trotz Unterschieden in den Kommunen die Ausnahmesituation der Pandemie zu keiner generellen Zunahme der Gefährdungsmeldungen führte. Ob es entgegen zahlreicher Befürchtungen nicht zu einem Anstieg der Gewalt in Familien kam oder ob das Dunkelfeld nicht entdeckter Gefährdungen während der Pandemie gewachsen ist, bleibt offen.

Fest steht: „Durch die Schließung oder begrenzte Öffnung von Schulen, Kitas und Horte entstand eine Lücke die trotz der Bemühungen vieler Behörden, die breite Öffentlichkeit in den Schutz des Kindeswohls einzubeziehen, nicht überbrückt werden könne“, schreiben Birgit Jentsch und Brigitte Schnock in Ihrem Fazit. In Deutschland gingen vor der Pandemie etwa 40 Prozent der Hinweise auf Kindeswohlgefährdungen von diesen Institutionen aus.

Aus internationalen Erfahrungen mit der Pandemie lernen

„Aufgrund der dynamischen Entwicklung der Pandemie sollten für den Kinderschutz künftig Strategien entwickelt werden, die internationale Erfahrungen einbeziehen“, fordern Jentsch und Schnock. Sie regen dazu an, mit zunehmender Verfügbarkeit empirischer Daten systematisch und länderübergreifend die Folgen der Pandemie für das Wohlergehen der Kinder zu vergleichen und gegenüberzustellen, wie jeweils Herausforderungen gemeistert wurden. In Deutschland wurde zu Beginn der Pandemie eine vom Bundesfamilienministerium geförderte Kommunikations- und Praxistransferplattform aufgebaut, die die Herausforderungen für die Träger der Kinder- und Jugendsozialhilfe aufzeigt und durch regelmäßig aktualisierte Informationen, Empfehlungen und Good-Practice-Beispiele Unterstützung bietet.

Das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH)wird getragen von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in Kooperation mit dem Deutschen Jugendinstitut. Es wird vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördert.


Weiterführende Informationen

Child welfare in the midst of the coronavirus pandemic – Emerging evidence from Germany, erschienen in der  Ausgabe 09/2020 der Zeitschrift „Child Abuse and Neglect“

Kinder im Blick? Kindeswohl in Zeiten von Corona, erschienen in Sozial Extra 5/2020 im September 2020

Projekt „Lernen aus problematischen Kinderschutzverläufen"

Fachgruppe Frühe Hilfen in der Abteilung Familie und Familienpolitik des DJI


Kontakt
Dr. Birgit Jentsch
Abteilung Familie und Familienpolitik, Fachgruppe Frühe Hilfen
089/62306-194
jentsch@dji.de

Dr. Brigitte Schnock
Abteilung Familie und Familienpolitik, Fachgruppe Frühe Hilfen
089/62306-352
schnock@dji.de

Uta Hofele
Abteilung Medien und Kommunikation
089/62306-173
hofele@dji.de