„Ohne Kitas wäre die Vereinbarkeit von Familie und Beruf heutzutage nicht mehr möglich“
DJI-Direktor Thomas Rauschenbach im Interview zum Nationalen Bildungsbericht 2020 über den weiterhin steigenden Bedarf an Betreuungsplätzen und an Kita-Personal
DJI: Welche Bedeutung hat die institutionelle Betreuung in Kindertageseinrichtungen für Familien?

Prof. Dr. Thomas Rauschenbach:
Das Aufwachsen der Kinder in öffentlicher Verantwortung neben der und in Ergänzung zur Familie hat massiv an Bedeutung gewonnen. Während der Corona-Pandemie wird dies mehr als deutlich. Die Eltern konnten und können in Phasen des Lockdowns Familie und Beruf nur sehr schwer vereinbaren. Sie sind häufig überfordert: Homeoffice, Homeschooling und Kinderbetreuung gleichzeitig zu bewältigen, schafft kaum jemand. Hinzu kommt: Kinder brauchen zur eigenen Entwicklung und zur Weltentdeckung andere Kinder. In einer Zeit ohne Kitas und ohne Kontakte mit anderen Kindern fehlten vor allem den Einzelkindern die Gleichaltrigen zum Spielen. Denn außer den Eltern, außer Erwachsenen hatten sie meist niemanden. Der Kita-Alltag bietet all das: Spiel, Spaß, Kontakte, gemeinsames soziales, emotionales, kognitives und praktisches Lernen, vielfältigste Anregungen, gezielte Förderung.
Welchen Stellenwert haben Bildungsaspekte hierbei?
Die „Kita“, also die Kindertageseinrichtung für alle Kinder bis zur Einschulung, fördert und betreut von Anfang an alle Mädchen und Jungen in einer großen Vielfalt und Breite. Sie ist zugleich ein idealer Ort für alle Kinder, ganz nebenbei Sprache zu lernen, und für jene Kinder, die zuhause kein Deutsch sprechen, Deutsch zu erlernen. Im wirklichen Leben gibt es kaum Eltern, die zeitlich und inhaltlich in der Lage sind, ihr Kind motorisch, musisch, sozial, emotional sprachlich und kognitiv zu fördern – und das alles auch noch einigermaßen ausgewogen. Die Kitas eröffnen somit eine Riesenchance einer breiten, umfassenden und frühen Bildung aller Kinder von Anfang an.
Zahlenmäßig betrachtet, ist die Betreuung der unter 3-jährigen in Ost- und Westdeutschland immer noch unterschiedlich ausgeprägt: In Ostdeutschland nimmt längst die große Mehrheit (85 Prozent) der 2-jährigen Kinder die Angebote der Kindertagesbetreuung in Anspruch, im Westen sind es inzwischen mehr als die Hälfte (58 Prozent). Mit anderen Worten: In Deutschland sind Kitas für Kinder ab dem Alter von zwei Jahren für eine Mehrheit zur Normalität geworden – selbstverständlich, ohne die Familie als ersten und wichtigsten Bildungsort und als Lebensmittelpunkt aus dem Blick zu verlieren. Deshalb wird diese im Bildungsbericht ebenfalls zum Thema.

Die Nachfrage der Eltern hat die Expansionsdynamik in der Kindertagesbetreuung weiter verstärkt. Wie viele Plätze sind 2025 und 2030 notwendig?
Die Experten in Deutschland haben lange Zeit nicht damit gerechnet, dass die Geburtenzahlen wieder ansteigen. Noch um die Jahrhundertwende gingen alle von einem anhaltenden und stetigen Geburtenrückgang aus. Und tatsächlich: Bis 2011 war eine deutliche Verringerung der Geburtenzahlen zu verzeichnen. Aber danach sind diese – mit einem besonderen Schub in den Jahren 2016 und 2017 – enorm angestiegen: zu einem Teil durch die schutz- und asylsuchenden jungen Familien, zu einem weiteren Teil – das wird oft übersehen – aufgrund der guten Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt und der Niederlassungsfreiheit im Zuge der EU-Binnenwanderung, zu einem weiteren Teil auch durch steigende Geburtenzahlen bei den hier geborenen und aufgewachsenen Müttern (letzteres nicht zuletzt aufgrund eines verbesserten Bildungsangebotes für kleine Kinder). Dadurch hat zwischen 2013 und Ende 2018 die Zahl der unter 6-jährigen Kinder um eine halbe Million zugenommen.
Die paradoxe Folge ist: Obwohl in Deutschland in einem enormen Kraftakt seit 2006 mehr als 670.000 neue Plätze in Kitas und Tagespflege für Kinder bis zur Einschulung geschaffen wurden, ist die Schere zwischen Angebot und Nachfrage weiter auseinandergegangen. Aktuell fehlen fast 360.000 Plätze, gemessen am erfragten Elternbedarf. Und deshalb zeigen unsere in die Zukunft gerichteten Abschätzungen: Bis zum Jahr 2025 werden wir im Lichte der bestehenden Rechtsansprüche für alle Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr weiterhin eine massive Nachfrage nach Kita-Plätzen zu erfüllen haben. Aber es gibt auch eine zweite Botschaft: In der Zeit nach 2025 wird der Bedarf nach heutigem Wissensstand – bei ansonsten gleichbleibenden Bedingungen – bis zum Ende des Jahrzehnts leicht zurückgehen.
Diese Aussage gilt allerdings nur dann, wenn die bestehende Lücke bei den Plätzen zwischen Angebot und Nachfrage bis 2025 geschlossen wird (und keine nennenswerte neue Zuwanderung zu verzeichnen ist). Nach unseren aktuellen Berechnungen müssten bis zum Jahr 2025 noch 372.000 Plätze für unter 3-Jährige geschaffen werden, während der Mehrbedarf im Vergleich zu heute im Jahr 2030 dann nur noch bei etwa 316.000 Plätzen liegt.
Allerdings kommt aufgrund der geburtenstarken Jahrgänge noch ein Platzbedarf bei den über 3-Jährigen hinzu: Dort fehlen unseren Vorausberechnungen zufolge weitere 280.000 Plätze bis zum Jahr 2025 – wobei diese fast vollständig im Westen Deutschlands zu schaffen wären.
Ergo: Die Politik darf bei ihren Anstrengungen in punkto Ausbau der Kita-Plätze im Kleinkindalter – trotz aller Qualitätsfragen, trotz des Bedarfs im Grundschulalter – vorerst nicht nachlassen. Es ist mir in diesem Punkt in jüngster Zeit etwas zu still geworden, ganz so, als hätten wir die Ziellinie bereits vor Augen. Dem ist leider nicht so.

Sind die Kitas personell gut ausgestattet? Wieviel Personal wird benötigt?
Hier muss man eines vorausschicken: Die von uns errechneten Personalschlüssel auf Basis der amtlichen Statistik bilden die Realität im Alltag und vor Ort nicht vollständig ab. So werden Erzieherinnen und Erzieher, die beispielsweise krank oder im Mutterschutz sind oder Urlaub haben, in diesen Personalschlüsseln nicht herausgerechnet. Aber dennoch sind diese Zahlen für die Politik wichtige Gradmesser, die sehr deutlich machen, dass zwischen den Bundesländern die Unterschiede sehr groß, wohl auch zu groß sind: Während eine Fachkraft beispielsweise im einen Land rechnerisch drei Kinder unter drei Jahren betreut, sind dies in einem anderen Land fast sechs, also doppelt so viele Kinder. Auf Basis derartiger Berechnungen ist es für Deutschland allerdings ein gutes Zeichen, dass die Personalschlüssel in Zeiten des Ausbaus nicht schlechter geworden sind. Dennoch ist noch Luft nach oben, insbesondere dann, wenn die Politik die Kitas immer deutlicher als erste öffentliche Bildungseinrichtungen verstanden wissen will und nicht nur als Ort der verlässlichen Betreuung. Und dafür wird noch mehr Personal benötigt als aktuell vorhanden ist.
Können Sie abschätzen, wie groß dieser Bedarf ausfallen wird?
Insgesamt betrachtet liegt ein riesiges Personalwachstum hinter uns – und zugleich können wir von weiteren Steigerungen ausgehen. Um das mal in Größenordnungen zu veranschaulichen: Im Jahr 1994 waren etwa 288.000 Personen bundesweit in Kitas beschäftigt, 2019 dagegen sind es rund 610.000 Beschäftigte. Und bis 2025 werden mindestens noch einmal weitere 200.000 Fachkräfte benötigt, um die zusätzlich zu schaffenden Plätze mit Personal auszustatten. Suchen Sie mal auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt Branchen, die solche Zuwachsraten vorweisen können. Sie werden kaum eine finden.
Die Gegenrechnung zu diesem personellen Mehrbedarf lautet dabei: Wie viele Menschen werden bis dahin einschlägig ausgebildet? Und wie viele werden benötigt, um die ausscheidenden Fachkräfte zu ersetzen? Wenn man also diese drei Einflussgrößen – Mehrbedarf, Ersatzbedarf, Neuausgebildete – miteinander verrechnet, muss man unter dem Strich von einer rechnerischen Lücke ausgehen: Demnach werden im Jahr 2025 in Westdeutschland bis zu 50.000 Fachkräfte fehlen, wenn wir jährlich in etwa gleich viele wie heute ausbilden, während die Zahl der Ausgebildeten in Ostdeutschland im Großen und Ganzen ausreichen wird.
Dabei ist dann allerdings noch nicht berücksichtigt, dass in vielen Ländern und in vielen Einrichtungen ein besserer Personalschlüssel fachlich wünschenswert wäre und dass pädagogische Fachkräfte irgendwo zwischen München und Flensburg ausgebildet, im Zweifelsfall jedoch genau dort benötigt werden, wo das Angebot zu gering ist, sprich: wo zu wenige ausgebildet wurden. Und die in dieser Branche gezahlten Gehälter sind wahrlich kein Anreiz, um dafür etwa von Neubrandenburg ins das Rhein-Main-Gebiet umzuziehen.
Allerdings gilt es auch in der Personalfrage zu beachten: Nach 2025 könnte sich die Situation merklich entspannen. Um es auf eine einfache Formel zu bringen: Weniger Kinder benötigen weniger Plätze, weniger Plätze benötigen weniger Personal. Unter ansonsten gleichen Bedingungen wie heute dürfte bis zum Jahr 2030 vermutlich ein Personalüberhang von etwa 77.000 Fachkräften zu erwarten sein. Gleichwohl könnte dieser im Falle einer klugen, vorausschauenden Politik dann sehr gut eins-zu-eins für Qualitätsverbesserungen genutzt werden. Insgesamt lässt sich mithin festhalten, dass – Stand heute – die Fachkräftelücke noch einige Jahre deutlich klaffen dürfte, in zehn Jahren aber vermutlich kein Thema mehr sein wird.
Das pädagogische Personal und die Qualifikation sind entscheidend für die Kindertagesbetreuung. Ist das Betreuungspersonal gut ausgebildet?
Ja, die Erzieherinnen und Erzieher – als das Kernpersonal der Kita-Landschaft – sind gut ausgebildet. Die Ausbildung wurde in den letzten Jahrzehnten mehrfach reformiert und thematisch erweitert. In der Tendenz ist auch die schulische Vorqualifikation beim Ausbildungszugang gestiegen. Und hinzukommt, dass in diesem Jahrhundert das Arbeitsfeld Kita darüber hinaus an Anerkennung und Wertschätzung gewonnen hat.
Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite ist aber auffallend, dass der Anteil an akademischen Fachkräften in den Kitas nur bei 6 Prozent liegt. Das ist nicht nur im Vergleich zu allen anderen Bildungsbereichen extrem gering: Im Bereich der allgemeinbildenden und beruflichen Schulen liegt dieser bei 100 Prozent, in der übrigen Kinder- und Jugendhilfe in den meisten Arbeitsfeldern bei 20 bis 30 Prozent und in der Erziehungsberatung und in den Jugendämtern haben sogar 60 bis 70 Prozent der Beschäftigten einen Hochschulabschluss. Das heißt, in dieser Hinsicht sind die Kitas in Deutschland nach wie vor abgehängt. Der Satz, „Man braucht kein Universitätsdiplom, um Kinder wickeln zu können“, ist fatal und in keiner Weise zielführend. Wissensabhängige Dienstleistungsberufe und „Dienste am Menschen“ mit komplexen Themenstellungen bedürfen eines Höchstmaßes an Qualifikation.
Mit anderen Worten: Es ist ausgesprochen anspruchsvoll, mit Kindern zu arbeiten, die sich noch nicht artikulieren, noch nicht ihre Bedürfnisse ausdrücken können, es ist ausgesprochen wichtig, etwas von Sprachentwicklung zu verstehen, wenn ein Großteil der Kinder bilingual aufwächst und Kinder die Sprache nebenher, implizit erlernen. Ich habe noch kein überzeugendes Argument gehört, warum Erzieherinnen und Erzieher geringer qualifiziert sein sollten als Grundschulehrkräfte. In beiden Altersgruppen sind die Themen komplex: Inklusion, Spracherwerb, Motorik, musische Erziehung, Gruppenprozesse, naturwissenschaftliche Phänomene, Digitalisierung, soziale und emotionale Entwicklung, Kooperation mit Eltern und, und, und.
Allerdings: Selbst, wenn nur die Kita-Leitungen eine akademische Ausbildung hätten – das wäre aus meiner Sicht das Minimum –, bräuchten wir mittelfristig bei über 55.000 Kitas in Deutschland sehr viel mehr Absolventinnen und Absolventen mit einem einschlägigen Hochschulabschluss. Zudem sind die Länder beim Qualifikationsniveau sehr unterschiedlich aufgestellt. Führend sind Sachsen und Hessen: Hier hat jeder zehnte Beschäftigte einen akademischen Abschluss, in Brandenburg und im Saarland dagegen sind es nur drei Prozent. Und in Bayern hat fast die Hälfte des Personals noch nicht einmal eine Ausbildung auf dem Niveau einer Erzieherin; hier ist traditionell der Anteil der Kinderpflegerinnen besonders hoch.

Der Anteil an Kindern mit Deutsch als Zweitsprache steigt und somit auch der Bedarf an Sprachförderung in Kitas. Wie ist Deutschland hier aufgestellt?
Oft wird beklagt, dass Kinder mit Migrationshintergrund seltener Kitas besuchen als andere und dass deshalb eine frühe Integrationschance vertan wird. Ein wichtiges Argument ist dabei, dass Forschungen zeigen, dass der Spracherwerb in den ersten Lebensjahren besonders leicht gelingt. Insofern muss es ein übergeordnetes Ziel sein, Kinder mit nichtdeutscher Familiensprache möglichst früh für die Kindertagesbetreuung zu gewinnen. Aktuell besuchen allerdings Kinder mit Migrationshintergrund unter drei Jahren nur halb so häufig eine Kita wie Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund. Das zeigt einmal mehr, dass die Lücke fehlender Plätze vor allem bei dieser Gruppe an Eltern sichtbar wird. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Erfreulich ist jedoch die Lage bei den über Dreijährigen: Hier gehen seit Jahren mehr als acht von zehn Kindern mit Migrationshintergrund in eine Kita, so dass drei Kitajahre für diese Kinder die Regel sind.
Brisant und von der Politik bislang viel zu wenig beachtet, ist aber ein anderer Befund, den wir im Bildungsbericht seit Jahren beobachten und der in jüngster Zeit weiter ansteigt: Mehr als jedes fünfte Kita-Kind unterhält sich zuhause mit seinen Eltern vorrangig in einer nichtdeutschen Familiensprache – und das im Bundesdurchschnitt. Im Klartext heißt das, dass wir Bundesländer haben, bei denen das bei mehr als jedem dritten Kind, in manchen Metropolen sogar bei mehr als jedem zweiten Kind der Fall ist. Das sind enorme Größenordnungen. Bei diesen Kindern ist davon auszugehen, dass die Kita der zentrale Ort ist, an dem sie Deutsch als Zweitsprache erlernen können. Das zeigt einmal mehr, wie wichtig der erste Bildungsort Kita für diese Kinder ist.
Und deshalb betrachte ich auch den Befund, dass jedes Bundesland in Sachen Sprachförderung seinen eigenen Weg geht, nicht als Sternstunde des Föderalismus. Bislang fehlen überzeugende Strategien und einheitliche Tests, was Deutschland bei PISA und den deutschlandweiten Test im Schulalter ja ganz gut hinbekommt. Sprachförderung ist somit ein Schlüsselthema für die Bildungs- und Familienpolitik, um die Kinder frühzeitig und gut integrieren zu können, um die soziale Herkunft nicht als dauerhaften Malus in der Biographie von Kindern zu verfestigen. Die Chance des Sprachenlernens in den ersten Lebensjahren muss auch mit Blick auf die weitere Bildungsbiografie der Kinder genutzt werden.
Dieses Themenfeld kann sich durch die anhaltende Zuwanderung ebenso verstärken wie durch die Niederlassungsfreiheit im Rahmen der EU-Binnenmigration. So könnte die Corona-Krise ganz rasch dazu beitragen, dass junge Familien aus dem Süden Europas nach Deutschland kommen, um hier Arbeit zu finden.

68 Prozent aller Grundschulen bieten im schulischen Kontext Ganztagsangebote an. Die Entwicklung in den Bundesländern ist jedoch sehr heterogen. Welche Angebote gibt es insgesamt für Grundschulkinder?
Zunächst einmal, die Spanne ist groß. Während beispielsweise das Ganztagsangebot in Hamburg inzwischen bei über 90 Prozent liegt, sind es in Baden-Württemberg gerade einmal 22 Prozent. Allerdings wurde die Ganztagsbetreuung im letzten Jahrzehnt in allen Ländern ausgebaut – und die Politik in Bund und Ländern ist sich offenbar auch einig, dass dieses Angebot bis zur Bedarfsdeckung weiter ausgebaut werden sollte.
Im Vordergrund steht dabei jedoch vor allem, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sicherzustellen. Laut Koalitionsvertrag der Bundesregierung soll bis zum Jahr 2025 ein Rechtsanspruch auf Ganztag für Grundschulkinder umgesetzt werden. Das wird kein einfaches Unterfangen, da die Landschaft der Ganztagsangebote im Grundschulalter nach wie vor ausgesprochen unübersichtlich und heterogen ist. Ein Teil der Länder setzt eher auf ein schulnahes Angebot, andere verstärkt auf Angebote in Horten oder altersübergreifenden Kindertageseinrichtungen, andere wiederum auf einen Mix aus allem, wie beispielsweise Bayern: Dort wird ein Teil Ganztag innerhalb der Schulen angeboten, ein Teil in Horten und ein dritter Teil in Form einer sogenannten Mittagsbetreuung, die oft in der Regie von örtlichen Schulträgern oder Landfrauenvereinen verantwortet wird. Diese drei Varianten, das nur am Rande, werden zum ersten Mal richtig sichtbar durch den aktuellen Kinderbetreuungsreport des DJI.
Lern- und Bildungsprozesse von Kindern finden nicht nur in der Schule statt, sondern auch in non-formalen und informellen Kontexten. Welche Befunde liegen hier vor?
Für die Analyse dieses Bereichs wurden im Nationalen Bildungsbericht unter anderem die Daten des DJI-Surveys „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ (kurz: AID:A) ausgewertet. Dieser liefert wichtige Informationen zur Situation von Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und ihren Familien in Deutschland. So zeigen die Daten beispielsweise, dass Eltern mit hohen Bildungsabschlüssen engagierter sind, 68 Prozent ihren Kindern täglich vorlesen, während Eltern mit niedrigeren Bildungsabschlüssen dagegen eher Ausflüge unternehmen oder gemeinsam fernsehen. Auch der Besuch von Förderangeboten unterscheidet sich entsprechend dem Bildungshintergrund der Eltern: Lernprogramme für Kleinstkinder wie das Prager Eltern-Kind-Programm (PEKiP) besuchen nur 6 Prozent der Eltern mit niedrigem Bildungshintergrund und 15 Prozent mit hohem Abschluss, beim Sport sind es 38 im Vergleich zu 58 Prozent.
Allerdings gilt beim Thema non-formale Bildung ganz generell, dass die außerschulischen Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen oft viel zu wenig beachtet werden: Kinder- und Jugendarbeit, Auslandsaufenthalte, ehrenamtliches Engagement, Jugendfreiwilligendienste sind nur einige Beispiel dessen, was junge Menschen vor, neben und nach der Schule machen und was durchaus wichtige Impulse für die eigene Bildungsbiografie liefern kann.
Welche Rolle spielt die Digitalisierung in der frühkindlichen Bildung?
Wir wissen bisher nicht sehr viel über digitale Medien in den Kitas. Zu beobachten ist, dass die Kita als Bildungsort bisher außerordentlich reserviert auf das Themenfeld der Digitalisierung reagiert hat. Vermutlich nicht wenige Erzieherinnen und Erzieher betrachten die Kita als eine digitalisierungsfreie Zone. Sie sind der Meinung, Kinder müssen in ihrem Leben erst einmal ihre eigenen Primärerfahrungen machen, also die Welt analog, haptisch kennen lernen, müssen unmittelbar mit anderen Kindern spielen und experimentieren, müssen – auch in der Grundschule – zuerst einmal selbst schreiben lernen, bevor sie etwas eintippen. Das leuchtet auch alles unmittelbar ein.
Gleichwohl: Wir haben zugleich eine zweite Wirklichkeit der Kinder zuhause. Und dabei gilt, dass nahezu alle Eltern ständig, jedenfalls häufig ein Handy, Tablet oder Laptop nutzen – und Kinder die Wichtigkeit dieser digitalen Geräte sehr schnell erahnen. Bereits kleine Kinder werden so auf diese technischen Geräte fixiert und manchmal lernen sie das Wischen auf dem Tablet noch vor dem Sprechen.
Wir sehen also: Es gibt in gewisser Weise eine mehrschichtige Wirklichkeit für Kinder in Sachen Digitalisierung, mit der sich auch die Kitas auseinandersetzen müssen. Und die Corona-Pandemie wird hierbei ihr Übriges dazu beitragen. So war es beispielsweise eine schöne Idee, dass einige Kitas einen täglichen Morgenkreis ihrer Gruppe mit den Kindern zuhause am Bildschirm per Videokonferenz auf die Beine gestellt haben – und die Kinder so untereinander wenigstens rudimentär im Kontakt geblieben sind.
Fakt aber ist, dass im Jahr 2017 nur 7 Prozent der Einrichtungen Tablets für die Nutzung mit Kindern zur Verfügung standen, so eine Untersuchung der Stiftung „Haus der kleinen Forscher“. Das pädagogische Fachpersonal fühlt sich häufig nicht ausreichend qualifiziert, und nur 10 Prozent der Eltern von unter 6-jährigen sind der Meinung, dass Kinder den Umgang mit digitalen Medien in der Kita erlernen sollten. Die große Mehrheit sieht die Hauptverantwortung dafür in der Familie. Wenn man aber in der Kita in Sachen digitaler Bildung aktiv werden will, braucht es sicherlich eine andere Ausstattung; hier müsste ein Digitalpakt Kita, ähnlich wie den Digitalpakt Schule, ins Leben gerufen werden. Und nicht zuletzt: Auch das pädagogische Personal müsste dann sehr viel gezielter mit derartigen Themen in der Ausbildung konfrontiert werden, um mit diesem Thema im Kita-Alltag souverän umzugehen. Auch bei der Digitalisierung gibt es also noch viel zu tun.
Kontakt
Prof. Dr. Thomas Rauschenbach
Direktor des Deutschen Jugendinstituts
rauschenbach@dji.de
Dr. Susanne Lochner
Wissenschaftliche Referentin „Nationale Bildungsberichterstattung“
susanne.lochner@dji.de
Katharina Kopp
Wissenschaftliche Referentin „Nationale Bildungsberichterstattung“
kopp@dji.de
Marion Horn
Abteilung Medien und Kommunikation
Tel.: 089/62306-311
horn@dji.de