Frühe Hilfen schlagen eine Brücke zwischen Systemgrenzen
Um die Gesundheit von Säuglingen und Kleinkindern zu schützen, wurden die Frühen Hilfen aufgebaut. Inzwischen gilt dieses systemübergreifende Versorgungsnetzwerk als vorbildlich. Was die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Fachkräfte so wirkungsvoll macht und vor welchen Herausforderungen sie stehen.
Von Christina Boll[1] und Mechtild Paul
Kinder haben das Recht auf ein gesundes und gewaltfreies Aufwachsen (BMFSFJ 2022, Vereinte Nationen 1989). Dieses Recht war vor dem Hintergrund schwerwiegender Kinderschutzfälle der Ausgangspunkt der Frühen Hilfen, die deutschlandweit ab dem Jahr 2006 auf den Weg gebracht wurden. Um die Chance zu erhöhen, dass gleiche Lebenschancen für alle Kinder, unabhängig von deren Wohnort und sozialer Herkunft, sichergestellt werden, sollten Eltern frühzeitig in ihren Beziehungs- und Erziehungskompetenzen gestärkt und in ihrem Alltag unterstützt werden.
Die Frühen Hilfen richten sich demnach an werdende Eltern und Familien mit Kindern in den ersten drei Lebensjahren. Diese Fokussierung ist fundiert durch die empirische Evidenz zahlreicher internationaler Studien, die belegen, dass das präventive Investment in der frühen Kindheit von zentraler Bedeutung ist für die förderliche Entwicklung eines jungen Menschen in seinem weiteren Lebensverlauf (Heckman 2013, Cunha/Heckman 2007, Buss 2016, Buss/Entringer/Wadhwa 2012).
Frühe Hilfen legen dabei einen besonderen Fokus auf psychosozial belastete Familien, zum Beispiel Familien in Armutslagen, Eltern mit psychischen Erkrankungen, Familien mit Fluchtgeschichte oder vielfach belastete Familien. In Deutschland lebt ein Fünftel der Familien mit kleinen Kindern in belastenden Lebensumständen, wie die bundesweit repräsentative Studie „Kinder in Deutschland – KiD 0–3 2022“ zeigt (Ulrich u.a. 2023). Psychosoziale Belastungen wie beispielsweise negative Kindheitserfahrungen, beengte Wohnverhältnisse oder starke Anzeichen für eine Depression beziehungsweise Angstsymptomatik können sich negativ auf die Gesundheit und Entwicklung der Kinder auswirken (Egle u.a. 2016). Das gilt vor allem dann, wenn familiale Belastungsfaktoren gehäuft auftreten. Dies zeigt sich insbesondere bei Familien, die in Armut leben. So berichten Familien, die Leistungen der Grundsicherung beziehen, zu 46 Prozent von mehr als vier Belastungsfaktoren, wobei dies nur von 17,5 Prozent der Familien ohne Armutsrisiko angegeben wird. Bereits Säuglinge und insbesondere Kleinkinder, die in einer armutsgefährdeten Familie aufwachsen, weisen sehr viel häufiger eine Entwicklungsverzögerung auf als Kinder in Familien ohne Armutsgefährdung (Renner u.a. 2023).
Passgenaue Unterstützung für belastete Eltern in ganz Deutschland
Mittlerweile haben sich Frühe Hilfen zu einem zentralen Versorgungselement für werdende Eltern sowie Familien mit Säuglingen und Kleinkindern in Deutschland etabliert, das die bestehenden Sozialleistungssysteme ergänzt und verbindet. Durch ihr eigenes Profil und ihre spezifischen Angebote streben die Frühen Hilfen eine neue Versorgungsqualität bei der Unterstützung von (werdenden) Müttern und Vätern an und entwickeln niedrigschwellige und stigmatisierungsfreie Zugänge zu Eltern in belastenden Lebenslagen.
Frühe Hilfen entfalten ihr Potenzial in der multiprofessionellen Kooperation und Vernetzung vieler Akteur:innen aus den verschiedenen Leistungssystemen. Erforderlich ist eine geregelte, gut koordinierte und konstruktive Zusammenarbeit unterschiedlicher Professionen und Institutionen – insbesondere aus den Bereichen Kinder- und Jugendhilfe und Gesundheitswesen, aber auch aus der Schwangerschaftsberatung und anderen Sozialleistungssystemen, beispielsweise den Jobcentern.
In Netzwerken wird die Zusammenarbeit gesichert, und es werden die kommunalen Angebote abgestimmt, mit dem Ziel einer bedarfsgerechten Versorgung von Familien. Sie bilden die Basis für eine stete Verbesserung sowie Planung und Koordination einer zielgruppenadäquaten Angebotsstruktur. Kommunale Netzwerke Frühe Hilfen sind mittlerweile flächendeckend aufgebaut und in nahezu allen (99,8 Prozent) Kommunen mit einem Jugendamt in Deutschland vorhanden (Küster/Peterle 2023).
Koordinierungsstellen schaffen eine Kultur des Miteinanders und Voneinanderlernens
Unterstützt wird diese Struktur durch die Einrichtung von professionell ausgestatteten Koordinierungsstellen, die es mittlerweile flächendeckend auf allen föderalen Ebenen – Bund, Länder und Kommunen – gibt. Dadurch wird ein aufeinander abgestimmtes, effizientes Arbeiten möglich und eine Kultur des Miteinanders und Voneinanderlernens geschaffen. Diese Struktur wird gesichert durch die regelhafte Finanzierung des im Bundeskinderschutzgesetz verankerten „Fonds Frühe Hilfen“, der im Rahmen der Bundesstiftung Frühe Hilfen in der Zuständigkeit des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) umgesetzt wird. Mit mindestens 51 Millionen Euro jährlich können insbesondere die Elemente der Frühen Hilfen finanziert werden, die zwischen den Systemzuständigkeiten liegen und die Brücke zwischen den Systemgrenzen schlagen. Dazu gehören zum Beispiel die Koordinationsstellen auf allen föderalen Ebenen, die aufsuchende Unterstützung durch Familienhebammen und Familien-Gesundheitsund Kinderkrankenpflegende sowie Lotsendienste in Geburtskliniken.
Auch wenn die Frühen Hilfen, insbesondere aufgrund ihrer umgesetzten Vernetzungsstruktur im Sinne des Health-in-all-Policies-Ansatzes, häufig als Vorbild für nötige systemübergreifende Vernetzungs- und Versorgungskonzepte konsequent gesehen (etwa zur Versorgung von Kindern psychisch erkrankter Eltern) sowie für gelingende kommunale Präventionsketten oder Gesamtkonzepte genannt werden, stehen sie aktuell vor besonderen Herausforderungen.
Gesundes Aufwachsen von Kindern sichern: ein gesellschaftlicher Kraftakt
Mit den Frühen Hilfen hat sich am 21. Februar 2024 der Familienausschuss des Deutschen Bundestages unter der Leitung der SPD-Bundestagsabgeordneten Ulrike Bahr in einem Fachgespräch beschäftigt. Auf Grundlage der Ergebnisse des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH), das den Auf- und Ausbau der Frühen Hilfen auf Bundesebene wissenschaftlich begleitet, wurde darin die Dringlichkeit der dauerhaften Mittelerhöhung und die von den regierungsbildenden Parteien vereinbarte Dynamisierung des Fonds Frühe Hilfen im Koalitionsvertrag deutlich. Die Länder haben in einer Gesetzgebungsinitiative des Bundesrats bereits im Jahr 2022 auf die Notwendigkeit einer Erhöhung der Mittel hingewiesen (BR-Ds 217/22, Beschluss).
Neben den direkten Auswirkungen auf die Frühen Hilfen wurden die Ausschussmitglieder auch über die indirekten Auswirkungen auf andere Versorgungssysteme informiert. Denn für diese verlieren die Frühen Hilfen ihre Vorbildfunktion und büßen an Überzeugungs- und Durchschlagskraft ein, wenn die finanzielle Ausstattung nicht bedarfsgerecht ist. Hier ist nicht nur die Kinder- und Jugendhilfe gefragt, die ohnehin bereits von erheblichen Ressourcenproblemen betroffen ist. Ein gelingendes Aufwachsen von Kindern, insbesondere aus Familien in belastenden Lebenslagen, kann nur durch eine gesamtgesellschaftliche Kraftanstrengung in gemeinsamer Verantwortung sichergestellt werden.
Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 1/2024 von DJI Impulse „Psychisch stark werden“ (Download PDF[2]).
Bundesministerium Für Familie, Senioren, Frauen Und Jugend (BMFSFJ, Hrsg., 2022): Übereinkommen über die Rechte des Kindes. VN-Kinderrechtskonvention im Wortlaut mit Materialien, Berlin
Buss, Claudia (2016): Welche Auswirkungen haben mütterlicher Stress und Trauma auf die fetale und frühkindliche Entwicklung ihres Kindes? Vortrag im Rahmen der Kooperationstagung „Gemeinsam stark für Familien – Frühe Hilfen, Gesundheit und präventiver Kinderschutz“, 25.11.2016, Berlin
Buss, Claudia / Entringer, Sonja / Wadhwa, Pathik D. (2012): Fetal programming of brain development: intrauterine stress and susceptibility to psychopathology. Science Signaling Oct 9, 5 (245): pt7
Cunha, Flavio / Heckman, James (2007): The Technology of Skill Formation. American Economic Review, H. 97, Nr. 2, S. 31–34
Heckman, James (2013): The Heckman Equation Broschure.
Küster, Ernst-Uwe / Peterle, Christopher (2023): Netzwerkkoordinierende in den Frühen Hilfen. Faktenblatt zu den NZFH-Kommunalbefragungen. Herausgegeben vom Nationalen ZentrumFrühe Hilfen (NZFH). Köln
Küster, Ernst-Uwe / Peterle, Christopher (2024, im Erscheinen). Finanzierung von Frühen Hilfen. Faktenblatt zu den NZFH-Kommunalbefragungen. Herausgegeben vom Nationalen Zentrum Frühe Hilfen (NZFH). Köln
Renner, Ilona u.a. (2023): Wie geht es kleinen Kindern in Deutschland? Kindliche Gesundheit und Entwicklung. Faktenblatt 3 zur Studie „Kinder in Deutschland 0–3 2022“. Herausgegeben vom Nationalen Zentrum Frühe Hilfen (NZFH). Köln
Ulrich, Susanne M. u.a. (2023): Wie geht es Familien mit kleinen Kindern in Deutschland? Ein Fokus auf psychosoziale Belastungen von Familien in Armutslagen. Faktenblatt 2 zur Studie „Kinder in Deutschland 0–3 2022“. Herausgegeben vom Nationalen Zentrum Frühe Hilfen (NZFH). Köln
Vereinte Nationen (Hrsg., 1989): Convention on the Rights of the Child. Adopted and opened for signature, ratification and accession by General Assembly resolution 44/25 of 20. November 1989. Entry into force 2. September 1990, in accordance with article 49