Nach wie vor werden von den Vertretern der "Contra-Position" gesellschaftliche und familiale Wandlungsprozesse nicht zur Kenntnis genommen, wie die Zunahme der Frauen- und Müttererwerbstätigkeit,die veränderte Motivation von Frauen in Richtung auf eine prinzipiell lebenslang geplante, auf Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbstätigkeit orientierte Lebensplanung, die Zunahme von alleinerziehenden Müttern, die wachsende wirtschaftliche Bedeutung des Mitverdienstes von Frauen für die Erhaltung des ökonomischen Niveaus von Familien. Sie nehmen aber auch nicht zur Kenntnis, daß die Ergebnisse internationaler Forschungen längst nahelegen, alle Anstrengungen nicht auf eine grundsätzliche Hinterfragung, sondern auf die qualitative Verbesserung der Tagesbetreuungsangebote, und somit auch der Tagespflege, zu richten. Eine familienergänzende Betreuung mit qualitativ hohen Standards nämlich hat sich als dem "Kindeswohl" durchaus zuträglich erwiesen. Forschungen zeigen sogar, daß angesichts der Zunahme von Ein-Kind-Familien und der Auflösung geschwisterlicher Kontexte eine familienergänzende Betreuung zusätzliche Entwicklungschancen für die Kinder mit sich bringen kann.
Nun muß allerdings gesehen werden, daß es auch auf der "Pro-Seite" geradezu extreme Positionen gibt. Hier handelt es sich um solche Befürworter der Tagespflege, die davon ausgehen, daß Tagespflege allein deshalb gut sei, weil sie auf die Ressourcen der Familie und nachbarschaftliche Zusammenhänge zurückgreift. Die spezifischen Problemzonen der Tagespflege und die fachlich hohen Anforderungen an Tagespflegepersonen werden hier verharmlost mit der fatalen Konsequenz, daß dieses Feld dem "freien Markt" berlassen, Qualifizierungsangebote und auch eine Fachaufsicht nicht für nötig gehalten werden. Nicht selten wird diese Position auch in der Fachöffentlichkeit - wider besseres Wissen - unterstützt, um Anforderungen in konzeptioneller und finanzieller Hinsicht gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Mit Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ist jedoch gerade die Betreuung von Kindern in Familien als Leistungsangebot der Jugendhilfe der Betreuung von Kindern in institutionellen Einrichtungen gleichgesetzt worden. Damit verbunden ist die Verpflichtung der Jugendhilfe, für verantwort bare Qualitätsstandards in der Tagespflege und ein dem Bedarf entsprechendes Angebot zu sorgen. Fünf Jahre nach Inkrafttreten des KJHG sind diese Bestimmungen In der Praxis noch keineswegs ausreichend verwirklicht. In den Neuen Bundesländern ist der Bereich der Tagespflege ohnehin erst im Aufbau, da in der DDR der institutionellen Kinderbetreuung in allen Altersstufen der absolute Vorrang gegeben wurde.
Als Redaktionsgruppe für das vorliegende Handbuch setzten wir uns zum Ziel, einen Überblick - national und international - über den derzeitigen Stand in der Tagespflege zu geben, das Verständnis für die Situation der betroffenen Kinder und Erwachsenen und ihre Beziehungsdynamik zu fördern, erforderliche Qualitätsstandards zu benennen und praktische Hilfestellungen für die Planung und Ausgestaltung der verschiedenen Bereiche zu leisten. Das Buch wendet sich demzufolge an unterschiedliche Leser/innen: Vertreter/innen der öffentlichen und freien Jugendhilfe, inklusive der Tagesmütter-Vereine und -Initiativen; Tagesmütter und -väter sowie Interessenten und Interessentinnen für diese Tätigkeit; Eltern, deren Kinder in Tagespflege sind bzw. die eine familiale Betreuungsform suchen; ferner Dozenten und Studenten an (Fach-)Hochschulen sowie eine interessierte (Fach-)Öffentlichkeit.
Bei der Entwicklung des inhaltlichen Konzepts dieses Handbuchs war die Vorstellung leitend, den Leserinnen und Lesern möglichst viel vom bisherigen Wissen über die Betreuungsform "Tagespflege" zugänglich zu machen. Es wurde deshalb einerseits auf Erkenntnisse des "Tagesmütter-Projekts" zurückgegriffen, da sie in vielerlei Hinsicht noch gültig sind und es vergleichbar umfassende Untersuchungen in der Zwischenzeit nicht gegeben hat. Dies hielten wir auch deshalb für angebracht, da der damalige Abschlußbericht inzwischen vergriffen ist und die weitere, ständige Nachfrage auf das große Interesse in der Fachöffentlichkeit hinweist. Zum anderen wurden Autorinnen und Autoren aus den verschiedensten Fachgebieten gewonnen, die die aktuelle teilweise auch kontroverse - Diskussion und den gegenwärtigen Entwicklungsstand in der Tagespflege kompetent dokumentieren konnten. Es war unser Anliegen, daß jeder Artikel für sich lesbar und verständlich sein sollte; dadurch ließen sich inhaltliche Überschneidungen nicht vermeiden - wir bitten unsere Leser/innen dafür um Verständnis. Uneinheitlichkeiten in der Terminologie spiegeln kontroverse Standpunkte wider: Während das KJHG den Terminus "Tagespflege", "Tagespflegeperson" und "Pflegekind" vorgibt und sich viele Autoren und Autorinnen daran orientieren, kommt insbesondere von Tagesmütter-Vereinen die Anregung, die Begriffe "Familientagesbetreuung"' "Tagesmutter/Tagesvater" und "Tageskind" zu verwenden, da sie die Abgrenzung zur Vollzeitpflege und allgemein zum Begriff "pflegen" im Sinne von "sich um Bedürftige, insbesondere Alte kümmern" (vgl."Pflegeversicherung") deutlich machen. Da es sich bei der Tagespflege um ein vorwiegend weiblich besetztes Arbeitsfeld handelt, wird aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung in den Beiträgen häufiger die weibliche Form des jeweiligen Begriffes, z.B. Tagesmutter oder Beraterin, benutzt. Damit soll nicht zum Ausdruck gebracht werden, daß ein größeres Engagement und aktive Mitarbeit von Männern abgelehnt würde, nur entspricht dies gegenwärtig nicht der Realität.
Die Beiträge in diesem Handbuch beziehen sich überwiegend auf den Stand Mitte 1994. Auf die jüngsten Entwicklungen, die zur Änderung des § 24 des KJHG (Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz) geführt haben, wird im Kapitel II, 2 "Rechtsgrundlagen der Tagespflege" eingegangen.
Die Redaktionsgruppe bestand aus:
Renate Schymik und Klaus-Dieter Zühlke vom "Tagesmütter Bundesverband für Kinderbetreuung in Tagespflege e.V." sowie
Marianne Schumann, Dr. Rudolf Pettinger und Herbert Blüml vom Deutschen Jugendinstitut e.V. DJI