Modelle gesellschaftlicher Beteiligung von Kindern und Jugendlichen
Ausführliche Projektbeschreibung
Projektgegenstand “Beteiligung”Im Mittelpunkt des Projekts steht die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an Gestaltungs- und Entscheidungsprozessen, die in sozial geregelten Formen außerhalb der Familie stattfinden. Diese Formen reichen von formal bzw. rechtlich langfristig verankerten Beteiligungen beispielsweise in der SchülerInnenmitverwaltung oder in Jugendparlamenten bis hin zu kurzfristigen, projektbezogenen Partizipationsmodellen wie z.B. der Neugestaltung eines Schulhofs. Die laufenden Diskussionen um Kinderrechte und soziokulturelle Veränderungen, mit denen eine neue Akzentuierung von gesellschaftlicher Partizipation und ein neuer Blick auf Kindheit und Kinder verbunden ist, setzen wichtige Rahmenbedingungen für diese Formen gesellschaftlicher Beteiligung von Kindern und Jugendlichen.Das Projekt legt einen deutlichen Akzent auf den lebensweltlichen Zugang zu Beteiligungsmodellen von Kindern und Jugendlichen. Das damit verbundene Verständnis von Partizipation hebt sich ab von einem Partizipationsbegriff, der vorrangig auf politische Bildung ausgerichtet ist. Im Mittelpunkt steht gelebte Partizipation im Alltag, die darin zum Ausdruck kommt, wie Kinder untereinander und mit Erwachsenen kommunizieren, ihre individuellen und gemeinsamen Interessen vertreten, Positionen aushandeln, Konflikte bewältigen, Beziehungen pflegen und ihre Lebenswelt gestalten. Dieses Verständnis von Partizipation setzt voraus, daß Kinder als eigenständige Subjekte gesehen werden. Eine solche Perspektive hat auch im wissenschaftlichen Diskurs über Kindheit in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Während früher in der Entwicklungspsychologie und der Sozialisationsforschung das Interesse in erster Linie auf die Abfolge des Erlernens und Entwickelns des Kindes zum Erwachsenen gerichtet war, stehen heute die Lebenswelt und der Kinderalltag im Zentrum der Forschung. Eine besondere Rolle spielen dabei die unterschiedlichen Gestalten von Individualität und Sozialität, die von Kindern gelebt werden. Mit Blick auf Formen gesellschaftlicher Partizipation stellt sich dabei besonders die Frage, wie Kinder als soziale Akteure in einer individualisierten Welt sowohl Selbständigkeit als auch soziale Integration realisieren können.Beteiligung in den verschiedenen Lebensbereichen von Kindern und JugendlichenIn den letzten Jahren haben sich vor allem im kommunalen Raum neue Formen gesellschaftlicher Beteiligung von Kindern und Jugendlichen entwickelt. Das Spektrum reicht dabei von Modellen, die sich an den Verfahren der repräsentativen Demokratie der Erwachsenen orientieren bis hin zu offenen Formen der Kindermitbestimmung und projektförmigen Teilhabeformen. Die meisten Beteiligungsaktivitäten beziehen sich auf die nähere räumliche Umgebung von Kindern und Jugendlichen. Thematisiert werden Wünsche und Ärgernisse u.a. bezüglich Spielplätze, Verkehr, Freizeitgestaltung und Wohnumfeld. Im Rahmen von Projekten konnten Kinder und Jugendliche Ideen zur Gestaltung von Spielgeländen, Schulhöfen und kinderfreundlicher Verkehrsgestaltung entwickeln und teilweise erfolgreich umsetzen.Die daraus resultierenden Erfahrungen sind zwar inzwischen auf einer deskriptiven Ebene festgehalten und in der Fachöffentlichkeit diskutiert worden. Dagegen liegen bisher kaum Ergebnisse empirischer Forschung und wissenschaftlicher Begleitung vor, die sich mit den neu entstandenen Praxisformen, ihren Verfahren, Ergebnissen und Effekten sozialwissenschaftlich fundiert auseinandersetzen.Für den Bereich der Kindertagesstätten wurden Mitwirkungsmöglichkeiten von Kindern überwiegend im Rahmen von konzeptionellen Debatten wie etwa der Weiterentwicklung des Situationsansatzes thematisiert. Aufmerksamkeit erhalten in jüngerer Zeit jedoch auch institutionalisierte Formen der Beteiligung, wie z.B. Kinderkonferenzen, die bereits mit Kindergartenkindern durchgeführt werden können. Im Hortbereich finden sich Formen wie regelmäßige Besprechungskreise, die Wahl von Gruppen- und HortsprecherInnen und vereinzelt die Einrichtung von Kinder(bei)räten, die die Interessen der Kinder vertreten.Mitbestimmungsmöglichkeiten in der Schule sind in den Schulgesetzen geregelt, wobei die verschiedenen Ländergesetze unterschiedliche Beteiligungsmöglichkeiten vorsehen. Die institutionalisierte SchülerInnenmitwirkung ist jedoch weitgehend wirkungslos geblieben und stößt vielfach auf nur geringes Interesse. Begründen läßt sich dies mit der Kompetenzarmut der Mitwirkungsgremien, die zumeist nur Beratungs- oder Empfehlungsaufgaben haben, und mit einem hohen Maß an Verrechtlichung und Bürokratisierung. Schließlich fehlen vor allem die Mitgestaltungsmöglichkeiten am Wesentlichen der Schule, nämlich dem Unterricht.Die Debatte um Mitbestimmung an der Schule hat jedoch in den letzten Jahren eine neue Belebung erfahren. Die neu entstandene Diskussion um mehr Schulautonomie rückt die Einzelschule ins Zentrum. Dadurch entsteht ein Bedarf an mehr dezentraler pädagogischer Verantwortung, Entscheidungskompetenz und umfassender Partizipation von SchülerInnen und Eltern. Neue Konzepte einer "Öffnung von Schule" (Gemeinwesenorientierte Schule, Community Education u.ä.), die Kontakte und Kooperationen mit dem außerschulischen Umfeld erschließen, geben Anregungen für eine aktive "Beteiligungskultur". Die SchülerInnen erhalten im Rahmen von handlungs- und projektbezogenen Unterrichtsverfahren Möglichkeiten aktiver Mitwirkung.Für die offene Kinder- und Jugendarbeit der Verbände gehört die Vorstellung, Kindern und Jugendlichen Eigenverantwortlichkeit und Gestaltungsspielräume zur Verfügung zu stellen, zum konzeptionellen Selbstverständnis.Je nach interner Organisation können bereits jüngere Kinder Verantwortung als GruppensprecherInnen übernehmen; Jugendliche sind gefordert, die Gruppen jüngerer Kinder verantwortlich zu leiten sowie Funktionen in der Verbandsorganisation zu übernehmen. Gleichzeitig engagieren sich die Verbände für die Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und organisieren Partizipationsaktivitäten, die es Kindern und Jugendlichen ermöglichen, ihre Anliegen an Politik und Öffentlichkeit heranzutragen.Projektanlage und Forschungsfragen:Die Projektarbeit gliederte sich in zwei große Arbeitsabschnitte. Im ersten Schritt ging es um die Erstellung eines Überblicks über bestehende Beteiligungsmodelle auf der Basis von Literaturrecherchen und ExpertInnengesprächen. Wie bereits ausgeführt, wurde diese Übersicht durch eine quantitative Erhebung zur Verbreitung von Beteiligungsangeboten im kommunalen Raum ergänzt.In der zweiten Projektphase wurden ausgewählte Beteiligungsmodelle aus den verschiedenen Lebensbereichen von Kindern und Jugendlichen nach einem ausgearbeiteten Kriterienkatalog untersucht und beschrieben, um daraus Grundlagen für eine Typologie und Bewertung von Beteiligungsformen zu gewinnen. Insgesamt sollen ca. 16 Beteiligungsmodelle aus den Bereichen Kommune, Kindergarten, Hort, Schule und Kinder- und Jugendverbände genauer betrachtet werden, wobei aus jedem Lebensbereich mindestens zwei Modelle einbezogen werden. Am stärksten ausdifferenziert sind derzeit Formen der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen auf der kommunalen Ebene. Deshalb wurde hier versucht, den unterschiedlichen Ansätzen wie Kinder- und Jugendparlamenten, offeneren Formen wie z.B. Kinderforen und projektorientierten Verfahren wie z.B. Zukunftswerkstätten gerecht zu werden. Es werden gleichermaßen Modelle aus den alten und den neuen Bundesländern, aus Großstädten und kleineren Kommunen einbezogen. Alle Modelle werden auf ihre Beteiligungs- und Zugangsmöglichkeiten für beide Geschlechter, verschiedene Altersgruppen und unterschiedliche Nationalitäten bzw. ethnische Kulturzugehörigkeit untersucht.Die Untersuchung richtete sich auf folgende zentrale Themen und Fragestellungen:
- Entstehung der Beteiligungsmodelle, Themen, Ziele und Zeitperspektiven
Besondere Bedeutung hatte die Frage, in welcher Weise dafür gesorgt wird, daß die Sicht der Kinder und Jugendlichen bei der Aufgaben- bzw. Problemdefinition zum Tragen kommt.
- Teilnahmemöglichkeiten für Kinder und Jugendliche
Gefragt wurde, an welche Zielgruppen sich das Beteiligungsangebot richtet und wie die Teilnahme organisiert wird. Gibt es Unterschiede in den Teilnahmechancen nach Alter, Geschlecht, Schultyp, sozialer Herkunft und Nationalität der Kinder und Jugendlichen?
- Organisationsform, Ausstattung, Einbindung in die Strukturen vor Ort
Zu fragen war, ob es Satzungen oder festgelegte Verfahrensregeln, Beschlüsse politischer oder anderer zuständiger Gremien zur Regelung der Beteiligung sowie eine personelle und finanzielle Ausstattung gibt.
- Aktivitäten und Methoden
Neben der Frage, welche Aktivitäten mit der Beteiligung verbunden sind und welche Methoden dabei zum Einsatz kommen, interessiert auch, inwieweit die Tätigkeiten den Heranwachsenden Spaß machen oder sie langweilen, mit welchen Frustrationen sie verbunden sind und wie sehr die jugendlichen dabei engagiert sind.
- Pädagogische Begleitung, Rolle und Verhalten der Erwachsenen
Hier stellte sich zunächst die Frage, ob, in welcher Form und mit welcher personellen Ausstattung das Beteiligungsmodell durch pädagogische Fachkräfte begleitet wird. Grundsätzlich interessiert, in welcher Weise Erwachsene die Kommunikations- und Interessensfindungsprozesse unterstützen oder in bevormundender Weise beeinflussen.
- Praktische Konsequenzen und "Effekte" der Beteiligung
Für Projekte auf der kommunalen Ebene stellte sich die Frage, inwieweit Kooperationen mit EntscheidungsträgerInnen in Politik und Verwaltung aufgebaut werden konnten und in welchem Ausmaß die Anliegen der Kinder und Jugendlichen
a) überhaupt Gegenstand von Entscheidungs- und Planungsverfahren wurden und b) konkrete Realisierung erfuhren. Für Kindergarten, Hort und Schule ist zu fragen, wie sich die Gestaltung des Alltags in diesen Institutionen durch Beteiligung verändert. Ziel ist es auch, Erfahrungen und mögliche Lernschritte der teilnehmenden Kinder und Jugendlichen zu erfassen. Dazu gehört die Frage, ob Sachkenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen durch die Teilnahme an Beteiligungsaktivitäten erworben wurden.Geplantes methodisches Vorgehen:
Das Projekt gliederte sich in zwei aufeinanderfolgende Phasen: Der quantitativ orientierten ersten Phase kommt eher explorativer Charakter zu, während die qualitativ orientierte zweite Phase auf aktuelle empirische Befunde
abhebt.
Die erste Projektphase sieht im einzelnen vor:- Klärung des aktuellen Forschungsstandes durch Literaturrecherche und ExpertInnengespräche im Rahmen von Fachtagungen und Telefoninterviews;
- Standardisierte schriftliche Erhebung bei ca. 1.200 Gemeinden und Städten im gesamten Bundesgebiet auf der Basis einer Zufallsstichprobe;
- Auswertung mit SPSS und Analyse der Ergebnisse.
Die Verschiedenheit der zu untersuchenden Beteiligungsmodelle erforderte die Entwicklung eines umfangreichen Methodensets, bei dem auch die große Altersspanne der beteiligten Kinder und Jugendlichen berücksichtigt wird. Geplant waren für die zweite Projektphase u.a.:
- Teilnehmende Beobachtung an Sitzungen oder anderen Aktivitäten der Beteiligungsmodelle;
- Gespräche mit Kindern und Jugendlichen zu ihren Erfahrungen bei der Teilnahme und ihren Bewertungen des Beteiligungsmodells;
- Gespräche mit den beteiligten Erwachsenen, also mit den InitiatorInnen (soweit möglich), den PädagogInnen, die das Partizipationsmodell begleiten, mit MitarbeiterInnen aus Politik und Verwaltung, die mit den Anliegen der Kinder konfrontiert werden sowie mit Verantwortlichen in Institutionen und in den Kinder- und Jugendverbänden;
- Sichtung und exemplarische Auswertung von vorliegendem Dokumentationsmaterial aus den Beteiligungsmodellen (Sitzungsprotokolle, Satzungen, Beschlußvorlagen u.ä.).
Ergebnisse
Die Verbreitung der Projektergebnisse in Fachkreisen erfolgt(e) durch drei begleitende Fachkolloquien, eine abschließende Fachkonferenz sowie die Publikation von zwei Forschungsberichten und einem Buch. Darüber hinaus stellt das Team den aktuellen Forschungsstand des Projekts regelmäßig in Fachzeitschriften und auf Fachtagungen im ganzen Bundesgebiet vor.
Die Ergebnisse der quantitativen Erhebung in den Kommunen wurden im Dezember 1999 in einer 90-seitigen Broschüre mit dem Titel "Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in der Kommune. Ergebnisse einer bundesweiten Erhebung" veröffentlicht, die sowohl beim Deutschen Jugendinstitut e.V. als auch beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend kostenfrei zu beziehen ist.
Die Auswertung der qualitativen Modelluntersuchung wurde gezielt für die vier Praxisbereiche Kindertagesstätten, Schulen, Kinder- und Jugendverbände und Kommunen aufbereitet. Ziel der Broschüre war, Vorteile und mögliche Schwierigkeiten der verschiedenen Beteiligungsmodelle in den unterschiedlichen Institutionen und Bereichen aufzuzeigen und Anregungen für eine erfolgreiche Umsetzung von Beteiligungsangeboten zu geben. Eine wissenschaftliche Auswertung, die die Perspektive der beteiligten Kinder und Jugendlichen in den Mittelpunkt stellt und durch die Erfahrungen der begleitenden Erwachsenen ergänzt, erschien im Sommer 2001 bei Leske+Budrich unter dem Titel "Partizipation (er)leben - Erfahrungen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen".