Projektrahmen und Konzeption

Zwanzig Jahre nach dem Erscheinen des 6. Jugendberichtes ist es an der Zeit zu überprüfen, inwieweit Jugendhilfe und Jugendarbeit die Forderungen der Berichtskommission nach Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen einlösen und welche Bereiche heute noch der Entwicklung und Förderung bedürfen.
In den 70er Jahren begannen im Zuge der neuen Frauenbewegung Frauen erstmals sowohl ihre eigene Situation als Frauen in der Jugendarbeit als auch die Situation der Mädchen in den Einrichtungen zu thematisieren. In ihren Analysen wurden die Diskriminierung, Benachteiligung und Funktionalisierung von Mädchen erstmals thematisiert. Der Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre verfaßte 6. Jugendbericht zur "Verbesserung der Chancengleichheit von Mädchen in der Bundesrepublik Deutschland" war schließlich die erste umfassende Bestandsaufnahme zu den Leistungen der Jugendarbeit und Jugendhilfe und über die Defizite und den entsprechenden Handlungsbedarf, der sich in einem Katalog von Empfehlungen niederschlug.

Der 6. Jugendbericht war der `Startschuß´ für politisches und institutionelles Handeln zur Geschlechterfrage in der Jugendarbeit. Es entwickelten sich vielfältige Formen emanzipatorischer Ansätze der Mädchenarbeit sowohl innerhalb der traditionellen koedukativen Einrichtungen der Jugendarbeit und Jugendhilfe als auch außerhalb in eigenständigen, autonomen Projekten, die sich als Entwicklungsfreiraum und Schutzraum zugleich verstanden und verstehen. Eine Vielzahl von Fortbildungskonzepten und Maßnahmen für Fachkräfte im Bereich der Jugendarbeit vermittelten das entsprechende Know-How zur Umsetzung des neuen geschlechtsspezifischen resp. mädchengerechten Ansatzes. Nach den Forderungen zur Mädchenförderung wurden auch Forderungen nach spezifischer Jungenförderung laut, die Defizite in der männlichen Sozialisation aufgreift. Seit Anfang der 80er Jahre begannen sich jungenspezifische Ansätze zu entwickeln, die Probleme von Jungen thematisierten, analysierten und sich aufmach(t)en, neue männliche Identitäten und neue männliche Rollenbilder an die Jungen heranzutragen, die sich vom Konzept der Geschlechterhierarchie verabschieden und Jungen zu gleichberechtigtem Umgang mit Mädchen- befähigen sollen (vgl. u.a. Ottemeier-Glücks 1987, 1988).
In der Neufassung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre wurde mit dem §9,3 die Förderung von Gleichberechtigung im Ansatz von Jugendarbeit/ Ju-gend-hilfe konsequent festgeschrieben (vgl. Münder1991). Dem folgten die Ausführungsgesetze der einzelnen Bundesländer und im Jahr 1994 folgte die erste Formulierung und Verabschiedung von Richtlinien vor Ort zur systematischen Mädchenförderung am Beispiel der Frankfurter Leitli-nien zur Mädchenarbeit z.B. durch Mittelquotierung und Koppelung von Mittelzuweisung an den Nachweis mädchenfördernder Maßnahmen (vgl. Weißmann 1995). Zahlreiche Arbeitsgruppen in verschiedenen Bundesländern, Städten und Kommunen waren um die Entwicklung mädchengerechter Jugendhilfeplanung bemüht, zu der die Kommunen nach §80 KJHG verpflichtet sind (vgl. Hard 1993, Wallner 1997).
Trotz einer in Ansätzen positiven Entwicklung von Jugendarbeit und Jugendhilfe scheinen Mädchen ihre Entwicklungspotentiale noch immer nur begrenzt nutzen zu können. So stellten verschiedene Studien Anfang der 90er Jahre fest, daß Mädchen insbesondere im Laufe der Pubertät dazu neigen, die errungene Eigenständigkeit wieder aufzugeben und daß sie in dieser Phase ausgeprägter als Jungen Depressionen und psychosomatische Probleme entwickeln (vgl. Hurrelmann 1990, Horstkemper 1987, Flaake 1991,1993, Brown/Gilligan 1994). Dieses Phänomen läßt sich unter Umständen auf die Tatsache zurückführen, daß Sozialisationsprozesse in den 90er Jahren die Eigenständigkeit von Mädchen und Frauen zwar stützten, aber eine analoge Veränderung des im Modell der Geschlechterhierarchie verankerten Männlichkeitskonstruktes zu wenig gefördert wurde. Adäquate jungenspezifische Ansätze fanden bisher noch zu wenig Verbreitung. Die Wirkung des '9 KJHG und die praktischen Ansätze, Gleichberechtigung in der Jugendhilfeplanung zu verankern, sind zur Zeit noch wenig erforscht.
Nach einer Literaturrecherche und der Auswertung vorhandener Praxismaterialien wird im laufenden Forschungsprojekt der aktuelle Stand von Forschung und Praxisreflexion herausgearbeitet und es werden Hypothesen zur mädchengerechten Ausgestaltung der Jugendarbeit und Jugendhilfe entwickelt.
Das Projekt soll in der Form einer Expertise im Ergebnis aufzeigen, wie verbreitet die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Interessen und Problemlagen in der Jugendhilfe ist und wo es auch 20 Jahre nach der Bestandsaufnahme des 6. Jugendberichts zur Sicherung von Gleichberechtigung und zur Qualifizierung der Vorgabe von Gendermainstreaming einer Fortentwicklung der Jugendhilfe und Jugendarbeit bedarf.

Parallel zur Bestandsaufnahme wird als Konsequenz der Forschungsprojekte
- zur männlichen Sozialisation (Sexuelle Gewalt. Männliche Sozialisation und potentielle Täterschaft", mit Constance Engelfried, Frankfurt a.M. 1995)
- zur Prävention sexuellen Mißbrauchs ("Täterstrategien und Prävention", München 2000) und
- der wissenschaftlichen Begleitung der Münchner Kampagne gegen Männergewalt an Frauen und Mädchen/Jungen
ein Forschungs-/Praxisprojekt vorbereitet zur "Veränderung der Männlichkeitsbilder an den Schulen" als zentrales Element der Gewaltprävention und der Gewährleistung von Entwicklungsfreiräumen für Mädchen und Frauen. Dieses Forschungsprojekt wird Anfang 2002 beginnen.