Kinderschutz bei hochstrittiger Elternschaft
Kinder und Jugendliche stärken und schützen
Stephanie Paul & Peter S. Dietrich
Expertise A: Genese, Formen und Folgen „Hochstrittiger Elternschaft“ – Nationaler und internationaler Forschungsstand
Deutsches Jugendinstitut 2006
Die Ergebnisse der empirischen Forschung und praxisseitige Erklärungsbemühungen weisen hinsichtlich der Entstehung, der Erscheinungsformen und der Auswirkungen hochstrittiger Elternschaft auf ein äußerst komplexes Geschehen hin. Interagierende individuelle, interpersonelle und kontextuelle Faktoren scheinen mit einer mehrstufigen Eskalationsdynamik verbunden. Empirisch gestützte Einflüsse auf die Entstehung und den Verlauf hochstrittigen Elternverhaltens werden intrapsychischen Variablen wie:
- narzisstische Vulnerabilität,
- emotionale Bindungsbesonderheiten hinsichtlich des Ex-Partners/der Ex-Partnerin,
- Qualität des Belastungserleben und
- deklaratives Wissen über die Bedürfnisse des Kindes zugeschrieben.
Empirisch unbestätigt bzw. nicht systematisch untersucht sind beispielsweise Zusammenhänge zwischen der Entstehung von Hochstrittigkeit und den Besonderheiten des Tren-nungsverlaufs, der Rolle ungelöster Paarkonflikte und der Einbeziehung Dritter in die elterlichen Auseinandersetzungen. Auch diskutierte (hypothetische) Einflussfaktoren wie eskalationsfördernde Kommunikationsstile und inadäquate Konfliktbewältigungsstrategien, d.h. dysfunktionale Interaktionsprozesse, die sowohl aus der Beziehungsgeschichte heraus wie auch aktuell zu betrachten sind, kommen als Forschungsthemen in Betracht. Da in es in Deutschland bislang keine systematische Untersuchung an einer aussagekräftigen Stichprobe hochstrittiger Familien (Mütter, Väter und Kinder) gibt, ist der Forschungsbedarf enorm und drängend.
Kinder reagieren je nach Alter und Entwicklungsstand unterschiedlich auf die elterliche Tren-nung bzw. Scheidung. Zudem fallen die Folgen für das Kind in Abhängigkeit von der Qualität der Eltern-Kind-Beziehung sowie von der Qualität der Elternbeziehung und dabei insbesondere von der Stärke und Art der elterlichen Konflikte unterschiedlich aus. Die Ausführungen haben gezeigt, dass anhaltende elterliche Konflikte einen negativen Einfluss auf die psychische Gesundheit und die Persönlichkeitsentwicklung der betroffenen Kinder nehmen. Das destruktive Konfliktverhalten der Eltern unterminiert die Qualität des Erziehungsverhaltens, besonders hinsichtlich emotionaler Zuwendung und angemessenen Disziplinierungsverhaltens. Die gravierendsten Folgen von Hochstrittigkeit für Kinder sind bei Auftreten interparentaler Gewalt zu beobachten. Der stärkste Prädiktor für emotionale Probleme dieser Kinder ist die Kombination von schlechter Behandlung durch die zerstrittenen, in ihrer Erziehungsfähigkeit herabgesetzten Eltern einerseits und dem Miterleben gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen diesen andererseits. Besonders in diesen Fällen, aber auch schon bei geringerer Intensität dauerhaften Elternstreits kommt es zu Problemen der Affektregulation, zu hoher physiologischer Erregung als Reaktion auf Konflikte und zu dysfunktionalen Verhaltensmustern.
Es zeigt sich, dass Hochstrittigkeit kein universelles Erscheinungsbild hat, sondern dass sich hochstrittige Elternpaare hinsichtlich der Ausprägung verschiedener Merkmale differenzieren lassen. Es ist daher eine möglichst genaue (diagnostische) Differenzierung der familialen Situation und insbesondere des Konfliktniveaus notwendig. Inwieweit dies bei der Gestaltungeffektiver Interventionen berücksichtigt wird, wollen wir mit der folgenden systematischen Betrachtung vorliegender, zielgruppenspezifischer Beratungs- und Unterstützungsansätze aufzeigen.
Stephanie Paul & Peter S. Dietrich
Expertise B: Wirkungen von Beratungs- und Unterstützungsansätzen bei hochstrittiger Elternschaft – Nationale und internationale Befunde
Deutsches Jugendinstitut 2006
Aus der erfolgten Vorstellung von Interventionskonzepten ergibt sich folgendes Bild auf die Wirksamkeit von Ansätzen zur Intervention bei Elternkonflikten, sei es im Verlauf von Scheidungs- bzw. Trennungsprozessen im Allgemeinen oder in Bezug auf hochstrittige Scheidungsverläufe im Besonderen:
- Die Notwendigkeit von Interventionsansätzen bei konfliktären Scheidungsverläufen und insbesondere bei Hochstrittigkeit ist aufgrund der inzwischen eindeutig nachgewiesenen negativen Folgen elterlicher Konflikte für die Kinder immanent.
- Erfahrungen aus der Praxis von Beratung, Therapie, Mediation, Elternbildungsprogrammen, Begleitetem Umgang und Begutachtung geben erste zahlreiche Hinweise auf die Wirksamkeit der verschiedenen Interventionsformen sowie auf die Zufriedenheit der Teilnehmer an der jeweiligen Maßnahme. Eine Einschränkung ergibt sich hier für die Maßnahme des Begleiteten Umgangs: Diese Maßnahme wird in Bezug auf eine Konfliktreduzierung als wenig erfolgreich ausgewiesen. Ihr Ziel und ihr besonderer Wert liegt hingegen in einer Sicherung der Kontakterhaltung zwischen Kind und umgangsberechtigtem Elternteil in geschütztem Umfeld.
- Empirische Untersuchungen zur Wirksamkeit liegen hingegen vergleichsweise selten vor und sind aufgrund der Untersuchungsmethodik häufig in ihrer Aussagekraft eingeschränkt. Sie beruhen in der Regel auf Befragungen der teilnehmenden Eltern. Es erscheint zweifelhaft, inwiefern solche Einschätzungen der betroffenen Eltern zum Erfolg der Maßnahme und zu Veränderungen in ihrem eigenen Verhalten, dem ihres Ex-Partners und dem ihres Kindes als zuverlässige Indikatoren für die Wirksamkeit einer Maßnahme angesehen werden können. Dies gilt auch für eine Einschätzung des Wohlbefindens bzw. der „Anpassung“ des Kindes, die aus Sicht der Eltern möglicherweise nur in unzureichender Weise getroffen werden kann.
- Hinzu kommt, dass bei Untersuchungen im Prä-Posttest-Design (Vergleich der Gegebenheiten vor und nach Durchlaufen der Maßnahme) häufig keine Kontrollgruppe untersucht wurde, die nicht an der Maßnahme teilgenommen hat. Nur bei Vorhandensein einer solchen Vergleichsgruppe können Veränderungen in der Experimentalgruppe sicher als Effekt der Maßnahme interpretiert werden. Untersuchungen, die einen Vergleich der Paar- und Familiendynamik vor und nach Durchlaufen der Maßnahme aus der Perspektive eines unabhängigen, neutralen Beobachters vornehmen, finden sich jedoch nicht. Die Entwicklung effektiver und wirksamer Ansätze und Programme für hochstrittige Paare kann durch unterschiedliche Herangehensweisen realisiert werden. Zum einen besteht die Möglichkeit, bereits bestehende erfolgreiche Beratungs-, Therapie- und Mediations konzepte vor dem Hintergrund der Problematik der Hochstrittigkeit zu optimieren und anzupassen. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass singuläre Interventionslinien in eskalierten Scheidungskonflikten in der Regel zu kurz greifen. Entsprechende Bemühungen zeigen dann auch, dass speziell für Hochstrittige entwickelte beraterische, therapeutische oder mediative Ansätze dadurch gekennzeichnet sind, Elemente dieser drei Interventionsbereiche der Beratung, Therapie und Mediation zu integrieren und gemäß der spezifischen Problematik von Hochstrittigkeit zu kombinieren. An dieser Stelle eröffnet sich die zweite mögliche Herangehensweise, die Entwicklung integrativer Modelle der Intervention. Unter Berücksichtigung der spezifischen Konfliktmuster und der hohen Konfliktintensität in eskalierten Scheidungskonflikten werden spezielle Interventionsprogramme für Hochstrittige entwickelt und eingesetzt. Hier handelt es sich zum einen um Eltern-Trainings-Programme, die sowohl informativen Charakter tragen als auch den Kompetenzerwerb der Eltern insbesondere hinsichtlich der Kommunikations- und Konfliktlösungsfähigkeiten befördern. Zum anderen geht es darum, Möglichkeiten zu schaffen, auch in spezifischen Konfliktfeldern und/oder bei besonderer Konfliktintensität intervenierend tätig werden zu können. So wurde beispielsweise für den Problembereich der Umgangsregelung, der in Fällen eskalierter Scheidungsverläufe in der Regel sehr strittig ist, die Maßnahme des Begleiteten Umgangs entwickelt. Zudem wurde für Familien, für die ein Elterntrainingsprogramm aufgrund der Intensität des Konflikts nicht mehr ausreicht, die Möglichkeit entwickelt, einen Parent Coordinator einzuschalten, der zunächst unmittelbar konfliktreduzierend agiert, aber auch autorisiert ist, kindeswohldienliche und konfliktreduzierende Entscheidungen zu treffen, wenn sich die Eltern anhaltend nicht einigen können. Letztlich verfolgen alle Bemühungen, Beratungs- und Unterstützungsansätze für hochstrittige Scheidungsverläufe zu entwickeln, ein gemeinsames Ziel: Die Entlastung der betroffenen Kinder und damit verbunden die Verhinderung von langfristigen negativen Folgen durch die Beendigung der eskalierten Konflikte zwischen den Eltern.