Jubiläum: zehn Jahre "Internationales Zentrum Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung"

Dokumentation ICEC-Fachtagung 2023

Translating Visions into Practice: Wie werden Qualitätsreformen in der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung in anderen Ländern umgesetzt?
21. Juni 2023, Hotel Aquino, Berlin
9:00 - 16:30 Uhr
 

Am 21. Juni 2023 feierte das „Internationale Zentrum Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung (ICEC)“ am Deutschen Jugendinstitut (DJI) sein Jubiläum mit einer Fachtagung zum Thema „Translating Visions into Practice: Wie werden Qualitätsreformen in der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung in anderen Ländern umgesetzt?“.

Die Fachtagung in Berlin bot Anlass für einen gelungenen Austausch von nationalen und internationalen Akteurinnen und Akteuren aus Politik, Fachpraxis und Wissenschaft. Zehn Jahre zuvor fand die Auftakttagung zur Gründung des ICEC statt, das im Jahr 2012 als „Arbeits- und Forschungsstelle“ am DJI seine Arbeit aufnahm.

Inspiriert durch die Keynote von Prof. Mathias Urban von der Dublin City University in Irland und mehrere Länderbeispiele diskutierten die über hundert Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Frage, welche Ansätze Länder bei der Qualitätsentwicklung verfolgen und wie sie Qualitätsreformen in der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) in gelebte Praxis übersetzen.

Ekin Deligöz, Parlamentarische Staatssekretärin
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Prof. Dr. Sabine Walper
Deutsches Jugendinstitut

Prof. Dr. Bernhard Kalicki
Deutsches Jugendinstitut

Als erste Gratulantin eröffnete die Parlamentarische Staatssekretärin des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Frau Ekin Deligöz, die Tagung. Ihr eindringlicher Appell an die Teilnehmenden lautete: „Angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen und einer unvorhersehbaren Zukunft brauchen wir die besten Rahmenbedingungen für das Aufwachsen unserer Kinder. Genauso wichtig sind gute Arbeitsbedingungen für die Menschen, die sie dabei begleiten und fördern.“ DJI-Direktorin Prof. Dr. Sabine Walper erinnerte in ihrer Begrüßung an die großen Visionen, die in Deutschland hinter dem Ausbau der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung standen, die sich bisher aber nur zum Teil erfüllt hätten. Sie erklärte, dass es darum gehe, „Bildungsdisparitäten wirksamer abzubauen und das Qualitätsversprechen einzulösen“. Sie würdigte in diesem Zusammenhang die Rolle des ICEC: „Das ICEC trägt seit zehn Jahren dazu bei, internationale Erfahrungen und politische Konzepte in die Diskussion in Deutschland und die Weiterentwicklung unserer Fachpraxis hineinzubringen“. Prof. Dr. Bernhard Kalicki, der als Leiter der Abteilung „Kinder und Kinderbetreuung“ am DJI das ICEC mit aus der Taufe gehoben hat, erinnerte an Meilensteine in der Arbeit des ICEC und brachte seinen Wunsch zum Ausdruck, „dass sich weitere erfolgreiche zehn Jahre anschließen“.

Auf dem Weg zu einem globalen Gemeingut: Neukonzeption der frühkindlichen Bildung in Zeiten der Krise
Prof. Dr. Mathias Urban, Dublin City University, Irland

In seinem Auftaktvortrag bettete Prof. Dr. Mathias Urban die frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung in einen globalen Rahmen ein und erinnerte an die Verantwortung, die wir dafür tragen, Kindern weltweit faire Chancen und einen lebenswerten Planeten zu gewährleisten. Die Covid-19-Pandemie sei nur eine von mehreren existenziellen, selbstverschuldeten und sich gegenseitig verstärkenden Krisen, die auf die Menschheit zukommen, beispielsweise bzgl. Klima, Biodiversität, erzwungener Migration, Konflikten, Armut und Demokratie. Weder kann auf diese Krisen wirksam reagiert werden, ohne in die frühe Kindheit zu investieren, noch ließen sich nachhaltige Systeme der frühkindlichen Entwicklung, Bildung und Betreuung schaffen, wenn diese Krisen ausgeblendet werden. Zwar waren und sind Länder unterschiedlich von den Krisenszenarien betroffen, doch zeigt sich, dass junge Kinder und ihre Familien zu den vulnerabelsten Gruppen gehören. Auch in wohlhabenden Ländern leiden junge Kinder aus benachteiligten Gruppen besonders unter negativen Umwelteinflüssen, schlechter Gesundheit und (Mangel-)Ernährung und finden ungünstigere Bedingungen für eine gesunde Entwicklung, Wohlbefinden und die Ausschöpfung ihres vollen Potenzials vor.

Vor diesem Hintergrund verfolgen immer mehr Länder, viele davon im sogenannten globalen Süden, ehrgeizige und innovative multisektorale Strategien für die frühe Kindheit. Herr Urban mahnte an, die Perspektiven und Erfahrungen dieser Länder stärker zu berücksichtigen. Gerade von ihnen ließe sich für den Umgang mit Krisen Vieles lernen. Insbesondere gehe es dabei auch darum, unterschiedlichen regionalen und kulturellen Kontexten Rechnung zu tragen, lokale Ansätze zu stärken, globale Lösungs- und Erkenntnisansätze kritisch zu prüfen und Beteiligung statt vorgefertigter Lösungen zu ermöglichen. „Aus diesen Ansätzen“, so der Vortragende, „ergibt sich ein grundlegendes ethisches und politisches Projekt für Angebote der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung, das zu einem Übergang zu nachhaltigeren und gerechteren Systemen für alle beitragen kann“.

Reformbeispiele aus Finnland, Dänemark und Frankreich beleuchteten im Anschluss unterschiedliche Anknüpfungspunkte für Qualitätsentwicklung.

FBBE-Personal in Finnland: Erfolge und Herausforderungen auf dem Weg zu höchster Professionalität
Prof. em. Dr. Kirsti Karila, Universität Tampere, Finnland

Die Professionalisierung der Fachkräfte stellt einen zentralen Baustein der umfassenden Qualitätsreform dar, die in Finnland aktuell umgesetzt wird. Im Zuge dieser Reform wurden die Qualifikationsanforderungen für die Tätigkeit in Kindertageseinrichtungen neu definiert. Vor dem Hintergrund einer langen Tradition multiprofessioneller Teams stand dabei auch die Entwicklung eines gemeinsamen Kerncurriculums sowie differenzierter Kompetenzprofile für die verschiedenen Berufsgruppen, die in frühkindlichen Einrichtungen tätig sind, auf der Agenda. 2019 wurde zu diesem Zweck ein Nationales Forum eingesetzt, in dem Ausbildungseinrichtungen, aber auch Gewerkschaften, Wissenschaft und weitre Akteure aus Politik und Praxis der FBBE zusammenkamen, um eine gemeinsame Vision und ein gemeinsames Verständnis für die zukünftige Gestaltung der verschiedenen Ausbildungszweige zu entwickeln. Das Forum erarbeitete Empfehlungen für alle Berufsgruppen und Ebenen der Ausbildung in der frühkindlichen Bildung und Betreuung für die Jahre 2021 bis 2030.

Einen weiteren Eckpunkt der Reform bildet die Erhöhung des Anteils der Fachkräfte mit einem Hochschulabschluss. Künftig sollen zwei von drei Fachkräften in den Kindertageseinrichtungen einen Abschluss auf Bachelorniveau besitzen. Für die Leitung ist ein pädagogischer Masterabschluss erforderlich.

Diese Neuerungen müssen jedoch auch in Finnland unter Bedingungen eines Fachkräftemangels umgesetzt werden. Darüber hinaus sind die Arbeitsbedingungen aufgrund zahlreicher Maßnahmen zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit und Effizienz auf lokaler Ebene herausfordernder geworden. Dies gefährdet zusätzlich die Realisierung der Reformziele und erhöht die Abwanderung aus dem Berufsfeld.

Aktuelle Herausforderungen und Reformen für Kinder unter drei Jahren in Frankreich
Prof. Dr. Pascale Garnier, Université Sorbonne Paris Nord, Frankreich

Entgegen der häufig zitierten Vorbildfunktion ist Frankreich mit erheblichen Herausforderungen in der Bildung, Betreuung und Erziehung der Jüngsten konfrontiert. In ihrem Vortrag skizzierte Prof. Dr. Pascale Garnier das zersplitterte französische System der Kinderbetreuung für unter Dreijährige, welches extrem unterschiedliche Bedingungen des Aufwachsens für Kinder schafft und vor allem zugewanderte Familien benachteiligt, die sich in dem System kaum zurechtfinden. Es bestehen große regionale und soziale Unterschiede im Zugang zu qualitativ guter Betreuung. Jüngere Berichte und Konsultationen mit dem Sektor frühkindlicher Bildung und Betreuung haben sowohl einen hohen quantitativen Ausbaubedarf als auch die Notwendigkeit von Qualitätsverbesserungen aufgezeigt. Die Rede ist von einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und „institutioneller Gewalt“ aufgrund ungünstiger Fachkraft-Kind-Schlüssel. Der Fachkräftemangel verschärft auch in Frankreich die Probleme des FBBE-Sektors.

Bei den aktuellen Reformbestrebungen richtet Frankreich auch den Blick nach Deutschland. Allerdings hat sich Frankreich gegen die Einführung eines Rechtsanspruchs nach deutschem Vorbild entschieden zugunsten der Einführung eines „öffentlichen Dienstes der Frühen Kindheit“ (“service public de la petite enfance“), der einen Schwerpunkt auf die Erleichterung des Zugangs zu frühkindlicher Bildung und Betreuung für Kinder in Armutslagen legt. Unter anderem sollen die Angebote erschwinglicher und flexibler an die Bedürfnisse der Familien angepasst werden, auch in die Qualität wird investiert.

Positiv hob Frau Garnier hervor, dass das zunehmende Interesse an der „Entwicklung des Kindes“ eine Abkehr von der traditionellen Politik darstellt, die FBBE lediglich als ein Instrument zur Erleichterung der Erwerbstätigkeit von Eltern betrachtet. Allerdings seien die Reformen Stückwerk; es gäbe zwar „eine Evolution in Richtung eines integrierten Systems der frühkindlichen Bildung und Betreuung, aber keine Revolution“. Dafür fehle es nicht nur an einer langfristigen Vision der FBBE, sondern auch an Ausbildungsmöglichkeiten von Fachkräften auf universitärem Niveau.

Dezentralisiertes Qualitätsmonitoring in der FBBE und Unterstützung der lokalen Behörden in Dänemark
Persille Schwartz, Nationales Institut für Bildung und Qualität, Dänemark

In Dänemark sind die Kommunen seit 1. Januar 2022 per Gesetz verpflichtet, ein Qualitätsmonitoring in Kindertageseinrichtungen und der Kindertagespflege durchzuführen. Entsprechend der dezentralen Organisation und geteilten Verantwortung für die Qualität der frühkindlichen Bildung und Betreuung zwischen nationaler und lokaler Ebene haben die lokalen Behörden dabei große Spielräume, individuelle Lösungen umzusetzen. Allerdings müssen sie sowohl Konzept als auch Ergebnisse des Monitorings auf ihrer Homepage veröffentlichen. Eine auf nationaler Ebene eingerichtete Agentur unterstützt sie darin, ein lokales Konzept für Monitoring und Evaluation der FBBE-Qualität zu entwickeln, bietet Hilfe bei auftretenden Fragen und Herausforderungen in der Umsetzung an und fördert das „peer learning“ unter den Kommunen.

Persille Schwartz, die als Chefberaterin in dieser Agentur tätig ist, hob hervor, dass das Monitoring, das auch Beobachtungen vor Ort in den Kitas und der Kindertagespflege umfasst, auf gegenseitigem Vertrauen basiert. Es versteht sich nicht als Kontrolle, sondern als Grundlage für die kontinuierliche Qualitätsentwicklung und sieht daher auch keine Sanktionen vor, sondern gemeinsam erarbeitete Aktionspläne dort, wo ein Verbesserungsbedarf wahrgenommen wird.

Ein Jahr nach Einführung der neuen Anforderungen an das lokale Qualitätsmonitoring wurden – neben einer hohen Akzeptanz – auch Schwierigkeiten sichtbar, mit denen Kommunen zu kämpfen haben. Diese betreffen unter anderem die Frage, welche Daten gesammelt werden sollen, welche Form der Berichterstattung angemessen ist, wie mit problematischen Ergebnissen umgegangen wird und wie die Perspektive der Kinder erfasst werden kann.

Podiumsdiskussion:
Wie kann die Umsetzung von Qualitätsreformen unter schwierigen Bedingungen gelingen?

Claudia Fligge-Hoffjann, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Monika Lütke-Entrup, Niedersächsisches Kultusministerium

Prof. Dr. Sabine Walper, Deutsches Jugendinstitut

Stefan Spieker, FRÖBEL Bildung und Erziehung gGmbH

Alessandro Novellino, Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft

Prof. Dr. Mathias Urban, Dublin City University

In der abschließenden Podiumsdiskussion ging es um die Frage, warum sich der „Blick über die Grenzen“ lohnt und wie sich Anregungen aus anderen Ländern für die Qualitätsentwicklung in Deutschland nutzen lassen. Beleuchtet wurden internationale Qualitätsprozesse, beispielsweise im Rahmen der Europäischen Union. Darüber hinaus wurden einzelne Schlaglichter auf internationale Modelle geworfen, die in Deutschland Schule machen – unter anderem in den Bereichen Evaluation und Digitalisierung. Dabei wurde die Vielfalt der auf den unterschiedlichen Ebenen bestehenden Bezüge, Anknüpfungspunkte und Gewinne einer internationalen Perspektive und Offenheit deutlich.

Als ein gemeinsames Fazit wurde der Wunsch nach einer Vertiefung und Systematisierung des internationalen Austauschs geäußert; dabei soll auch die Einbindung von Kita-Fachkräften in den internationalen Austausch – z.B. über Austausch- und Studienprogramme – konsequenter mitgedacht werden.

Den länderübergreifenden Austausch zu fördern, ist eine der zentralen Aufgaben des ICEC. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am DJI arbeiten seit der Gründung des ICEC im Jahr 2012 sowohl in internationalen Gremien (OECD-Netzwerk Frühkindliche Bildung und Betreuung, Arbeitsgruppen der Europäischen Kommission) als auch an internationalen Studien mit. Unter Federführung der Europäischen Kommission waren sie unter anderem an der Erarbeitung eines Vorschlags für den Europäischen Qualitätsleitrahmen für die frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung beteiligt, der 2019 zu einer entsprechenden Empfehlung des Europäischen Rates führte. Auch die Arbeit der aktuellen EU-Arbeitsgruppe zu Fragen von Monitoring und Evaluation wird vom ICEC unterstützt.

Deutschland entschied sich im Jahr 2016 für die Teilnahme an der ersten groß angelegten internationalen Fachkräftebefragung, die Kita-Personal zu verschiedenen Themen des Arbeitsalltags zu Wort kommen lässt. Neben Deutschland beteiligten sich acht weitere Länder an der TALIS Starting Strong Studie, die von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) konzipiert wird. Das ICEC wurde als nationales Studienzentrum mit der Durchführung in Deutschland beauftragt. Rund 3.000 pädagogisch Tätige und Leitungen aus mehr als 500 Kitas deutschlandweit berichteten in der ersten Erhebung 2018 aus ihrem Arbeitsalltag. Aktuell wird die zweite Erhebung vorbereitet, die 2024 stattfindet. Dadurch wird nicht nur ein Zeitvergleich möglich – in der aktuellen Studie hat sich auch die Zahl der teilnehmenden Länder nahezu verdoppelt.

Darüber hinaus setzt sich das ICEC für viele weitere internationale Kooperationen ein und führte im Rahmen der eigenen Equal Access-Studie empirische Erhebungen zu lokalen Zugangsbedingungen zu frühkindlicher Bildung für benachteiligte Familien im internationalen Vergleich durch. Die Studie wird mit dem Fokus auf gleichberechtigte Teilhabe und bedarfsgerechte Angebote frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung in Migrationsgesellschaften fortgesetzt.

Internationales Zentrum Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung (ICEC) 

https://www.dji.de/icec