Familien mit muslimischem Hintergrund wirksam erreichen
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Migration führte bei den eingewanderten Familien dazu, dass bis dahin fraglos Gegebenes in Frage gestellt würde. Die eigene Identität würde erschüttert und bedürfte der Neuorientierung. Die Familien setzten sich mit der Aufnahmekultur auseinander, erfuhren sowohl Offenheit als auch Alltagsrassismen (Leiprecht 2002) und waren mit neuen Lebensbedingungen etwa in der Erwerbs- und Wohnsituation konfrontiert, die vor dem Hintergrund der eigenen biografischen Ressourcen und soziokulturellen Traditionen (soziales Milieu im Herkunftsland) verarbeitet und an die nächste Generation weitergegeben wurden.
Entscheidend für eine förderliche Erziehungsatmosphäre in den Familien ist, ob es gelingt, eine kulturelle Eigenständigkeit im Rahmen der Aufnahmekultur zu entwickeln, mithin die eigene Selbstwirksamkeit positiv zu erfahren, die dem Gefühl des Ausgeliefertseins in einer fremden Kultur gegenübergestellt werden kann (Stöbe 1998). Eine positive Integrationsbereitschaft muslimischer Familien, die eine essentielle Erwartung des Einwanderungslandes darstellt, braucht daher die Förderung von Integrationsfähigkeit. Gelingt dies, werden Kinder entlastet von den Vermittlungsaufgaben, die sie übernehmen müssen, wenn die Eltern der fremden Sprache nicht mächtig sind und die Kinder auch kulturelle Übersetzungsarbeit zu leisten haben.
Die skizzierten Grundkonstellationen – soziale Platzierung und familiale Werthaltungen – bedingen das Eltern-Kind-Verhältnis und die familialen Erziehungsstile maßgeblich. Hinsichtlich der Erziehungsstile wird in Familien mit muslimischem Hintergrund deutlich, dass eher ein autoritärer Erziehungsstil praktiziert wird (Thrum/Sann 2005). Präzisierend kommt Uslucan (2007) in seiner empirischen Studie bei 360 türkischen Familien zum Schluss, dass hier überwiegend ein permissiv-autoritärer Erziehungsstil vorherrscht, wonach in der frühen Kindheit „laisser-faire“ und verwöhnen praktiziert wird, wohingegen in der beginnenden Jugendphase durch Strenge und Restriktionen die Entwicklung von Ich-Stärke eingeschränkt ist. Darüber hinaus wird innerhalb der Familien deutlich nach Alter und Geschlecht segregiert: Je älter die Familienmitglieder sind, desto mehr soll ihnen Respekt bezeugt werden – dies gilt bereits für die Geschwisterreihung. Die Rangordnung korrespondiert mit differenzierter Arbeitsteilung und Verantwortungsübernahme. Unüblich sind Spiele mit Kindern „auf gleicher Augenhöhe“, Kinder sollen vielmehr durch Imitation der Erwachsenen lernen (Thrum/Sann 2005).
Die Befunde zu Erziehungsstilen, problematischen Geschlechterdynamiken und Gewalt verwiesen auf einen hohen Bedarf bei der Unterstützung von muslimischen Familien, insbesondere im Bereich von Erziehungsfragen. Gleichzeitig fanden sich viele positive Anknüpfungspunkte und Ressourcen in belastbaren familiären Fürsorgebeziehungen und einem haushaltsübergreifenden Familienleben. Darüber hinaus machten Selbsthilfeorganisationen von Migranten und muslimischen Eltern auf erhebliche Informationsdefizite türkischer Eltern in Bezug auf das deutsche Betreuungs- und Bildungssystem aufmerksam.
Erste Auswertungen deuteten an, dass Familien mit Migrationshintergrund in den Hilfen zur Erziehung unterversorgt sind, v.a. im Bereich der familienunterstützenden Leistungen. Die vorliegenden Daten zeigten jedoch, dass Migrantenfamilien bei den präventiven Angeboten (Familienberatung, Sozialpädagogische Familienhilfe) unterrepräsentiert sind, wohingegen sie im Bereich der intervenierenden, korrektiven Maßnahmen (Inobhutnahme, Betreuungshelfer) deutlich überrepräsentiert waren (Trede 2000). Pluto et al. (2007) vermuten hier eine fehlende interkulturelle Sensibilität und unzureichende Öffnung der Einrichtungen, aber auch Zugangsbarrieren ausländischer Familien gegenüber dem deutschen Hilfesystem, die vor dem Hintergrund der oft negativen Erfahrungen bei Behörden, insbesondere dem Ausländeramt, gemacht werden.
Das Problem der Mittelschichtorientierung und Migrantenferne in der Familienbildung und -beratung war seit langem bekannt und konnte bislang noch nicht durchgreifend verändert werden. Bereits im Sechsten Familienbericht (2000) wurde gefordert, die Erziehungskompetenz ausländischer Familien zu stärken und dafür entsprechende Konzepte in den Familienbildungsstätten sowie Beratungsstellen vorzusehen. Hier hat sich jedoch noch nicht viel verändert: Der Anteil von Teilnehmenden aus bildungsfernen Schichten liegt bei ca. 15 Prozent. Ebenso liegt die Beteiligung von Familien mit Migrationshintergrund weit unter ihrem Bevölkerungsanteil (Lösel et al. 2006). Für die Familienberatung zeigt eine Auswertung bei den evangelischen Ehe-, Lebens- und Familienberatungsstellen, dass in knapp 70 Prozent der Einrichtungen der Anteil der Beratungsfälle mit Migrationshintergrund unter zehn Prozent liegt, immerhin noch 36 Prozent erreichen weniger als fünf Prozent Migranten (Sammet 2005). Eine dem Bevölkerungsanteil entsprechende Umsetzung des § 16 SGB VIII hinsichtlich des Anspruchs auf familienbezogene Leistungen zur Förderung der Erziehungsarbeit – wie im Sechsten Familienbericht gefordert – war noch keineswegs erreicht.