Ausgangssituation

Eine postindustrielle Gesellschaft ist, wegen der Anforderung an die Subjekte ihre Kompetenzen und ihr Arbeitsvermögen im gesamten Lebenslauf zu entfalten, in besonderer Weise existenziell auf anspruchsvolle familiale Leistungen angewiesen. Umgekehrt liefert der Erwerbsbereich wichtige materielle und ideelle Ressourcen für die familiale Lebensführung.
Verglichen mit der Familie der 1950er/60er Jahre zeigen sich jedoch heute grundlegende Veränderungen in der Form von Familie, deren Innenleben und der familialen Alltagsgestaltung.
Diese Entgrenzung von Familie lässt sich in folgende vier Dimensionen unterscheiden:

  • Die strukturell-morphologische Dimension
  • Die Haushalts- und Familienformen sind heute von einer hohen Dynamik geprägt. Familiale Lebensführungen sind damit kontingent. Veränderungen in der Familiensituation bringen die Notwendigkeit mit sich, die familiale Lebensführung permanent neu zu gestalten. Die Familienformen vervielfältigen sich, was an der steigenden Zahl von Alleinerziehenden, nichtehelichen Lebensgemeinschaften, Patchworkfamilien oder binukleare Familien zu erkennen ist. Die Pluralisierung der Familienformen geht mit neuen Anforderungen bei der Verknüpfung von Familie und Arbeit sowie mit Mehrbelastungen in der familialen Alltagsgestaltung einher. Die Pluralisierung der Familienformen kann jedoch auch neue Freiräume und Erholungsräume mit sich bringen. Familien sind heute zunehmend haushaltsübergreifende, multilokale Netzwerke.
  • Die Gender-Dimension
  • Beobachtbar ist eine steigende Erwerbsbeteiligung von Müttern, sowie ein – zumindest gewünschtes − stärkeres Engagement von Vätern in der Sorgearbeit. Bedingt durch neue Geschlechterleitbilder und die höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen, können und möchten diese auch nicht mehr uneingeschränkt zu Hause ihren Partnern den Rücken frei halten. Das heißt, dass Erholung in den Familien heute nicht mehr selbstverständlich arbeitsteilig funktioniert.
  • Die kommunikativ-interaktive Dimension
  • Familien werden aufgrund der Veränderungen im Geschlechterverhältnis und im Generationenverhältnis immer stärker zu Orten der Aushandlung von unterschiedlichen Motivlagen und Bedürfnissen.
  • Die sachlich-inhaltliche Dimension
  • Aufgrund der vielfältigen Außenbeziehungen zu ausdifferenzierten Teilsystemen von der Wirtschaft bis hin zum Bildungssystem und den individuellen Interessen der Familienmitglieder wird familiale Lebensführung zu einer anspruchsvollen Gestaltungsleistung. Unter anderem müssen die auseinanderstrebenden individuellen „Zeitpfade“ der Familienmitglieder zusammengefügt werden. Die Anforderungen in den Familien steigen auch, da die gesellschaftlichen Ansprüche an die Eltern, z.B. bezüglich der Koproduktion mit der Schule (betrifft v.a. Mütter), die Erwartungen der Partner aneinander, aber auch die Erwartungen und Ansprüche an die Erziehung der Kinder in den letzten Jahren gestiegen sind.

In ihrem Zusammenwirken führen die hier analytisch unterschiedenen Dimensionen der Entgrenzung von Familie zu einem komplexen und anforderungsreichen Familienalltag. Familie ist heute demnach etwas, was nicht fraglos vorhanden ist, sondern beständig neu hergestellt und gepflegt werden muss.

Parallel zur Entgrenzung von Familie vollziehen sich einschneidende Umwälzungen in der Art des Wirtschaftens und Arbeitens. Auch bei der Entgrenzung von Arbeit lassen sich mehrere Dimensionen unterscheiden.

  • Erwerbsarbeit wird zeitlich flexibler, unregelmäßiger und unsteter. Das gilt für die Arbeitszeit im Tages- und Wochenverlauf wie für die lebenszeitliche Verteilung von Arbeit.
  • Erwerbsarbeit löst sich tendenziell auch von der Bindung an bestimmte Orte des Arbeitens. Gleichzeitig sind die Anforderungen an die Mobilität der Arbeitskräfte gestiegen.
  • Erwerbsarbeit wird intensiver und subjektiver zugleich: Intensivierung meint, dass zur Erbringung der Arbeitsleistung in vielen Branchen und Berufen eine stärkere Mobilisierung mentaler, emotionaler und körperlicher Ressourcen notwendig wird. Subjektivierung heißt, dass Betriebe verstärkt die persönlichen Potenziale der Mitarbeiter/innen über die engere Fachqualifikation hinaus als Quelle der wirtschaftlichen Produktivität erkannt haben. Subjektivierung kann dabei an das vermehrte Interesse vieler Beschäftigter anschließen, Lebenssinn und Identität auch in der Arbeitswelt zu entfalten, aber insgesamt kann man von einem umfassenderen Zugriff auf die Beschäftigten sprechen.
  • Erwerbsarbeit wird zu einem knappen Gut: Aufgrund von Technisierung, Informatisierung und Vermarktlichung wird bezahlte Erwerbsarbeit nicht mehr selbstverständlich auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt. Das heißt, dass vielfältige Anstrengungen von den Erwerbstätigen nicht nur in der Erwerbsarbeit selbst geleistet werden müssen, sondern auch im Vorfeld, zu deren kontinuierlicher Pflege und Weiterentwicklung. Erwerbstätige sind somit zunehmend gefordert, ihre eigene Arbeitskraft zu vermarkten (Employability).

Welche Konsequenzen hat dieser zweifache Umbruchprozess für die Familien einerseits und die Wirtschaft andererseits?
Da Familie und Erwerbsbereich derzeit starken endogenen Wandlungsprozessen unterworfen sind, steht auch ihr gegenseitiges Verhältnis zur Disposition, das unter industriellen Verhältnissen als relativ stabil gelten konnte. Im Lebensverlauf muss permanent neu eine Balance von Arbeit und Familie hergestellt werden.
Auf einer allgemeinen Ebene geht es also mit Blick auf die betroffenen Individuen, die Familien sowie die Gesellschaft als Ganzes um die Frage nach den Wechselwirkungen und Interferenzen zwischen einer immer mehr auf Dynamik, Flexibilität und Mobilität ("Entgrenzung") setzenden Wirtschaft auf der einen und familialen Lebensformen, die zwar auch in Veränderung begriffen, dennoch aber auf eine gewisse Verlässlichkeit und Stabilität angewiesen sind, auf der anderen Seite. Die Zukunftsfähigkeit von Familie und, da sie zentraler Ort der Reproduktion der nächsten Generation ist, auch von Gesellschaft, hängt zu wesentlichen Anteilen davon ab, ob und wie diese Herausforderung angemessen gemeistert wird.

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