Digitale Chancengerechtigkeit
Alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland sollten gleiche Chancen auf die bestmögliche Bildung haben. Doch trotz vielfältiger Anstrengungen der Bildungspolitik, spielt die soziale Herkunft in diesem Kontext noch immer eine große Rolle. Auch im Zusammenhang mit digitalen Medien lässt sich ein sogenannter „digital divide“ beobachten. Wie digitale Bildungsprozesse gestaltet werden müssten, um diese Ungleichheit abzubauen, ist bislang wenig erforscht. Hier setzte das Forschungsprojekt "Digitale Chancengerechtigkeit – Digitale Lehr- und Lernumgebungen im Lese- und Literaturunterricht zur Verbesserung von Chancengerechtigkeit und Bildungsteilhabe in der Grundschule (DCG)" an. Gemeinsam untersuchten Wissen-schaftlerinnen und Wissenschaftler des Deutschen Jugendinstituts (DJI) und der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Nutzung digitaler Medien im Lese- und Literaturunterricht, indem sie Interaktionen, Lernstrategien und Lernmotivation erforschten.
Wie die IGLU-Studie 2016 zeigt, konnte der Anspruch auf Chancengerechtigkeit im Bildungssystem in Deutschland in den vergangenen 15 Jahren nicht realisiert werden (Hußmann u.a. 2017). Die soziale Herkunft prägt nach wie vor sowohl die Lesekompetenzen als auch die Nutzung digitaler Medien. Das Projekt zielte daher auf das Forschungsdesiderat, wie genau die soziale Herkunft im Lese- und Literaturunterricht der Grundschule Lernen und Kompetenzerwerb in Abhängigkeit von den verwendeten Medien beeinflusst.
Kinder aus Elternhäusern mit niedrigem sozioökonomischen Status sind schlechter auf schulische Anforderungen vorbereitet als Kinder aus Familien mit höherem sozioökonomischen Status. Das Projekt stützte sich auf den Ansatz des subjektiven Bildungswissens von Eva Dalhaus (2010). Sie beschreibt Passungslücken zwischen Bildungswissen, das in familialen lebensweltlichen Kontexten subjektgebunden erlangt wird, und institutionalisierten schulischen Leistungsanforderungen. Während Kinder lebensweltliche Situationen durch routinierte Handlungspraktiken bewältigen, kommt es vor allem in lebensweltlich ungewohnten Situationen zu Vermeidungs- und Abwehrverhalten. Ausgehend von der Hypothese, dass traditionell-analoge Unterrichtsmaterialien für viele Kinder niedriger sozioökonomischer Herkunft ungewohnte Situationen darstellen, digitale Medien aber sowohl in Familien mit niedrigem als auch mit hohem sozioökonomischen Status gleichermaßen vorhanden sind (Heinz 2018), liegt dem Projekt die Annahme zugrunde, dass insbesondere Kinder aus sozial benachteiligten Familien durch den Einsatz digitaler Medien im Unterricht zur Auseinandersetzung mit Texten motiviert werden können und somit sozial bedingte ungleiche Startbedingungen geringer ausfallen als in traditionell-analoger Lernumgebung. Zudem wurde aus bisherigen Untersuchungen deutlich, dass sich digitale Medien an die individuellen Lernvoraussetzungen der Kinder adaptieren lassen. Darüber hinaus wurden Kinder aktiv in die Produktion von sogenannten Adaptable Books eingebunden – in der Erwartung, dass sich ihre Motivation an der anschließenden Rezeption der digitalen und multimodalen Texte erhöht (Hauck-Thum 2018).
Das Forschungsprojekt zielte letztlich auf die Frage, wie digitale Lehr- und Lernumgebungen im Lese- und Literaturunterricht der Grundschule gestaltet sein müssen, damit sie an die Nutzungsgewohnheiten anknüpfen und die individuellen Lernvoraussetzungen der Kinder berücksichtigen, damit alle Kinder, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, davon profitieren. Dazu wurde zunächst Wissen darüber generiert, wie die soziale Herkunft die Lesemotivation, die Lernstrategien und die Lesekompetenz von Kindern in Abhängigkeit von den genutzten Medien beeinflusst. Folgende Forschungsfragen waren dabei leitend:
Schwächt sich der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Sprachkompetenz ab, wenn digitale Medien im Deutschunterricht eingesetzt werden?
Verändern digitale Medien im Lese- und Literaturunterricht Lernstrategien, Sprechanteile und Lernmotivation sozial benachteiligter Kinder?
Wie müssen digitale Lernangebote an die sozial vermittelten unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Kinder angepasst werden, damit alle Kinder ihre Lesekompetenz verbessern können?
Wie verändert die schulische Nutzung digitaler Medien die informelle Nutzung digitaler Medien außerhalb der Schule?
Alle Fragen wurden auch aus einer Genderperspektive im Hinblick auf Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen untersucht.
In einem Vergleichsgruppendesign lernten insgesamt circa 200 Kinder in jeweils vier dritten Klassen mit traditionell-analogen Büchern beziehungsweise mit Adaptable Books. Das Interaktionsverhalten der Kinder im Unterricht wurde zu fünf Zeitpunkten videografiert. In standardisierten Pre- und Posttests (u.a. aus IGLU und „Ein Lesetest für Erst- bis Sechstklässler“ (ELFE)) wurden die Lesekompetenzen der Kinder und ihre Lernmotivationen im Unterricht mit digitalen beziehungsweise traditionellen Büchern erfasst. Die Merkmale der Herkunfts-familien (sozioökonomischer Status, Bildungsniveau, Migrationshintergrund, Lesesozialisation, mediale Sozialisation) wurden über eine standardisierte Befragung aller Eltern erhoben (online und schriftlich). Die Kinder selbst wurden vor Beginn und nach Abschluss der Unterrichtsaufzeichnung mündlich zu ihrer Nutzung von analogen und digitalen Medien in der Freizeit befragt.
In quantitativen Datenanalysen wurde überprüft, ob sich (strukturelle und prozessuale) Merkmale der Herkunftsfamilien in unterschiedlichen Motivationen und Lesekompetenzen der Kinder in Abhängigkeit vom Lesemedium niederschlagen. Mithilfe qualitativer Videoanalysen wurden die Häufigkeit, Dauer und Form (von den Kindern oder den Lehrkräften) der Inter-aktionsinitiierung ermittelt. Weiterhin wurde an der Art der Äußerungen der Kinder überprüft, ob digitale Medien in besonderer Form an individuelle Vorerfahrungen der Kinder anknüpften. In einer Kombination der quantitativen und qualitativen Auswertungen wurde kontrolliert ob unter-schiedliche Lernstrategien der Kinder im Unterricht im Zusammenhang mit der sozialen Herkunft, den damit einhergehenden prozessualen Merkmalen (z.B. Lese- und Mediensozialisation) und den verwendeten Medien stehen.
Die Konzeption und Vorbereitung der Studie erfolgte in Kooperation mit der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Die Erhebung und Auswertung der quantitativen Analysen (Befragung von Eltern und Kindern, Pre- und Posttests) wurden im DJI durchgeführt. Die Videografie des Unterrichts und deren Auswertung erfolgte federführend an der LMU.
Allert, Heidrun/Asmussen, Michael/Richter, Christoph (Hrsg.) (2017): Digitalität und Selbst. Interdisziplinäre Perspektiven auf Subjektivierungs- und Bildungsprozesse. Bielefeld
Dalhaus, Eva (2010): 'Subjektives Bildungswissen'. Implikationen für die Beschreibung und Analyse herkunftsspezifischer Unterschiede in Bildungspraxis und -vorstellung. In: ZSE : Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 30. Jg., H. 2, S. 166-180
Ditton, Hartmut (Hrsg.) (2007): Kompetenzaufbau und Laufbahnen im Schulsystem. Ergebnisse einer Längsschnittuntersuchung an Grundschulen. Münster
Stalder, Felix (2017): Kultur der Digitalität. 3. Auflage, Originalausgabe. Berlin