Fachgruppe 3 - Angebote und Adressaten der Kinder- und Jugendhilfe
Unter der Perspektive der Adressatinnen und Adressaten kommen jene Jugendliche in den Blick, die tatsächlich von der Kinder- und Jugendhilfe erreicht werden oder von ihr als „zu erreichen“ definiert werden. Dem liegt die zentrale theoretische Prämisse jeglicher Adressatenforschung zugrunde, dass Bedarfe nicht per se existieren, sondern gesellschaftlich konstruiert werden. In diesem Sinne geht es in der Adressatenforschung auch um die empirische Analyse der Konstruktion des Bedarfs, der Problemlage, der Nachfrage sowie der gesellschaftlichen Konstruktion der Adressatinnen und Adressaten selbst. Aktuell beschäftigt sich vor allem das Projekt „Jugendhilfe und sozialer Wandel“ mit Fragen der Adressatenforschung.
Aktuell zeichnen sich insbesondere auf der Ebene der gesellschaftlichen Bedarfsdiagnose Entwicklungen ab, die aus der Sicht der Abteilung neue Forschungsfragen generieren. Diese Entwicklungen lassen sich unter der Überschrift „Neue Grenzziehungen zwischen privater und öffentlicher Verantwortung“ zusammenfassen. Leistungen und Aufgaben verlassen den privaten Raum und geraten in öffentliche (Mit)Verantwortung. Betreuungs-, Hilfe- und Förderungsleistungen, die gesellschaftlich neu definiert werden, werden verstärkt von öffentlichen Institutionen und weniger von Familien oder privaten Netzwerken erbracht (z.B. in Form der starken Zunahme der Inanspruchnahme von Beratungsleistungen, der ambulanten Hilfen der Erziehung, dem Ausbau der Kindertagesbetreuung für unter 3-jährige Kinder, des Ausbaus der Ganztagsschulen und des Rufs nach einem Ausbau früher, präventiver Hilfen). Diese Angebote reagieren u.a. auf veränderte Familienstrukturen, die Mobilitätsanforderungen des Arbeitsmarkts, neue Armutslagen, den Wandel der Bedingungen des Aufwachsens und schließlich wachsende Sicherheits- und Kontrollbedürfnisse durch frühzeitige pädagogische Disziplinierung. Es zeigt sich eine Tendenz, frühzeitig sozialstaatlich zu intervenieren bzw. zu vielfältigen Präventionsbemühungen in Form von neuen Angeboten. Andererseits zeigt die aktuelle Entwicklung – z.B. in einigen Regionen Ostdeutschlands –, dass auch Tendenzen einer Verantwortungsverschiebung vom öffentlichen in den privaten Bereich auszumachen sind (z.B. in Form der Vernachlässigung und Reduzierung der öffentlichen sozialen Infrastrukturen im Bereich offener Jugendarbeit).
Die neuen Grenzziehungen zwischen privater und öffentlicher Verantwortung fordert die Kinder- und Jugendhilfe auf unterschiedliche Art und Weise heraus. Sie implizieren Fragen nach der Finanzierung von Leistungen, die sich oftmals zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen einordnen lassen (z.B. Schule, Gesundheitssystem, Kinder- und Jugendhilfe) und berühren auch die ordnungspolitische Frage, welche staatliche Ebene solche Entwicklungen eigentlich forcieren darf. Zugleich werden damit Kernfragen der Kinder- und Jugendhilfe tangiert: Wie verhält sie sich selbst zu diesem neuen Aufgabenzuweisungen, wie definiert sie die Bedarfe, welche Angebotsformen werden entwickelt, welche Gestaltungsräume und Beteiligungsmöglichkeiten für Adressatinnen und Adressaten werden trotz der erkennbaren Inanspruchnahme eröffnet?