Abteilungskonzeption
Gesellschaftlicher Wandel und Familien
Die Arbeiten der Abteilung erhalten angesichts gravierender gesellschaftlicher Veränderungen der späten Moderne wie sinkender Geburtenraten und Kinderwünsche, dem Wandel der Altersstruktur, flexibler und mobiler Erwerbsarbeit, risikoreicher Arbeitsmarktstrukturen sowie veränderter Geschlechterverhältnisse, mit denen sich Familien derzeit auseinandersetzen müssen, eine wachsende Bedeutung. Gleichzeitig verändern sich auch die Familien: hinsichtlich ihrer Form (Rückgang der sogenannten Normalfamilie, kleinere Familien und zunehmende Fragilität), ihrer zeitlichen Strukturen im Alltag und Familienverlauf, ihrer räumlichen Dimension (Multilokalität und Vervielfältigung der Raum-Zeit-Pfade der Familienmitglieder), ihrer Kooperation mit anderen gesellschaftlichen Institutionen sowie ihrer Generationen- und Geschlechterbeziehungen und Leitbilder. Diese komplexen und vielfältigen Wandlungsprozesse führen beispielsweise zu neuen Bedarfen bei der Betreuung von Kindern sowie bei der Unterstützung von Eltern, die in ihrer Erziehung verunsichert sind. Hierdurch zeichnet sich als wichtiger gesellschaftlicher Trend der letzten Jahre die ambivalente Zunahme der Schnittstellen von familialer Privatheit und Öffentlichkeit ab, insbesondere ein verstärktes öffentliches Hineinwirken in Familienkontexte, sowohl mittelbar über neue raumzeitliche Entgrenzungen der Erwerbsarbeit als auch unmittelbar durch vermehrtes institutionelles Handeln im Rahmen präventiver, intervenierender und ergänzender Maßnahmen zum Kinderschutz auf veränderter gesetzlicher Basis. Eine Diffusion und Neuschneidung von Privatheit und Öffentlichkeit wird zunehmend auch am Thema Bildung und Erziehung deutlich. Die Abteilung greift in ihren theoretischen Arbeiten und anwendungs- sowie grundlagenorientierten Projekten diese Entwicklungen auf.
Theoretische Bezugspunkte
Als Bezugspunkte der Arbeiten der Abteilung fungieren sozialkonstruktivistische und praxeologische Konzepte, sozialökologische und diskurstheoretische Konzepte sowie Dimensionen sozialer Ungleichheit:
1. Familie als Herstellungsleistung
Familie wird alltäglich und biografisch von den unterschiedlichen an Familie Beteiligten produziert und reproduziert (siehe auch Siebter Familienbericht) - eine angesichts zunehmender Fragilität von Familien bei gleichzeitiger Neuformierung familialer Lebensformen anspruchsvolle Herausforderung. Im Focus stehen die unterschiedlichen Leistungen und Handlungen von Familie und ihrer Mitglieder, weniger ihre Einstellungen. Ein solches Doing Family ist eine keinesfalls selbstverständliche, sondern zunehmend voraussetzungsvolle Aktivität derjenigen Frauen, Männer, Kinder und Jugendlichen, die in Familien leben bzw. leben wollen und sich dabei stets mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und eventuell mit familienbiographischen Brüchen auseinander setzen müssen. Bei der Lebens- und Familienplanung junger Paare, die sich zunehmend entgrenzten Erwerbsverhältnissen ausgesetzt sehen sowie bei Familiengründungsprozessen werden diese Anforderungen sehr deutlich.
Zu unterscheiden sind zwei Formen von Gestaltungsleistungen, die je unverzichtbar sind: das Vereinbarkeits- und Balancemanagement sowie das Doing Family als – auch symbolische und sinnhafte – Konstruktion eines gemeinschaftlichen Ganzen im sozialkonstruktivistischen Sinn. In diesem Konzept, das in enger Verwandtschaft zum Konzept alltäglicher bzw. familialer Lebensführung steht, werden handlungs- und strukturtheoretische Annahmen miteinander verbunden. Herstellungsleistungen von Familie bedeuten für die verschiedenen Phasen und Formen von Familie Unterschiedliches; sie schließen Gelingens- wie Misslingensformen familialen Alltags ein. Zu den an der Herstellung von Familie beteiligten Akteuren gehören nicht nur die Familienmitglieder selbst, sondern auch öffentliche Akteure, politische Institutionen, Gewerkschaften, Verbände etc.. Dabei kann jedoch die mikrosoziologische Perspektive nicht einfach neben die der kollektiven Akteure gestellt werden – es gilt beide Ebenen aufeinander zu beziehen. Anschlussfähig an den Gedanken der praktischen Herstellungsleistungen ist die Akzentuierung von Familie als Generationenzusammenhang und haushaltsübergreifendes, multilokales Netzwerk. Die unterschiedlichen Wissens- und Erfahrungsschätze sowie die materiellen Ressourcen der Familiengenerationen sind wichtige Bausteine der Herstellung von Familie im Alltag und im Lebensverlauf. Angesichts fortschreitender Modernisierungen (Neuschneidungen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, Individualisierung, Zivilgesellschaft) ist die Anwendung und eine empirisch fundierte Weiterentwicklung des Konzeptes von „Familie als Herstellungsleistung“ besonders viel versprechend. Es ist heuristisch hilfreich, um Familie unter Bedingungen von Pluralisierung und Entgrenzung sowie die besonderen Herausforderungen an das Familienleben über die engere Haushaltsfamilie hinaus zu verstehen.
2. Familie im Kontext sozialer Systeme
In Anlehnung an sozialökologische Ansätze (Urie Bronfenbrenner) wird die Einbettung familialen Handelns in die Kontexte der sozialen Umwelt betont. Diese spannen sich von der Makroebene der Gesellschaft (Politik, Wohlfahrtsstaat) über die Meso- und Exosysteme (Arbeitswelt, Bildungssystem) bis hin zu konkreten nahräumlichen Gegebenheiten und dem Mikrosystem Familie, seiner Subsysteme (wie Partnerschaft, Geschwister) und einzelnen Mitglieder. Sozialökologische Ansätze ermöglichen nicht nur eine der Komplexität der Forschungsfragen angemessene konzeptuelle Abbildung der Austauschbeziehungen und strukturellen Abhängigkeiten zwischen Familien und ihrer physischen wie sozialen Umwelten, sondern schließt damit auch an aktuelle Linien der Familienpolitik und Familienhilfe an, insbesondere auf der kommunalen und lokalen Ebene, einschließlich der Frage nach notwendigen Infrastrukturen, Dienstleistungen und Kompetenzen.
Die Weiterentwicklung von Bronfenbrenners Ansatz zeigt, dass im Kontext einer sich entgrenzenden Gesellschaft auch die Trennlinien zwischen den unterschiedlichen Systemebenen und Teilsystemen unschärfer werden bzw. sich verschieben. Eine besondere Rolle nehmen bei diesen Verschiebungen die Medien (v.a. Fernsehen und Internet) ein, die die Kommunikation in den Familien sowie deren Wissensvorräte beeinflussen. Auch die forcierten Entgrenzungen von Erwerb und Familie verschieben bislang etablierte Systemgrenzen. Diese Neusortierungen des Verhältnisses von Privatheit und Öffentlichkeit führen zu neuen Herausforderungen des Umgangs von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit den divergierenden Erfahrungen in diesen unterschiedlichen Systemen und Bereichen. Dies schlägt sich etwa in neuen Aufgaben für Bildung in Familie sowie Familienbildung als institutionalisiertem Angebot nieder.
3. Die Konstruktion von Familienbildern und Familienvorstellungen
Als reflexives Instrument zum Verständnis heutiger Familien in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit sowie der Leistungen von und für Familien dient ergänzend dasjenige der Familienrhetorik. Mit seinem Fokus auf die Konstruktionsprozesse von Familienbildern und -vorstellungen – z.B. der „Alleinerziehenden“, der „Risikolagen“, der „guten Mutter“ oder der „neuen Väter“ – macht dieser Ansatz die Setzungen und Annahmen transparent, die hinter bestimmten, oft unreflektierten Normalitätskonzepten und auch politischen Programmatiken stehen. Familienrhetorik ermöglicht Interpretationen der Situation und Funktionen von Familie als gesellschaftlicher Institution und dessen, was jeweils als Familie gelten darf. Ein solcher Zugang zu Familie leistet bei der Analyse von Familienpolitik, Familienhilfe und anderen Praxisfeldern einen wichtigen Beitrag zur Professionalisierung und Versachlichung der Diskurse um Familie, indem er die notwendige analytische Distanz zum beforschten Feld ermöglicht. Mit Hilfe des Ansatzes der Familienrhetorik werden Begründungen für familienpolitisch relevante, spezifische Unterstützungsleistungen bzw. deren Unterlassung als soziale Konstruktionen sichtbar.
Dies gilt beispielsweise für die derzeit intensive Debatte – insbesondere im Kontext der Betreuung für unter dreijährige Kinder – inwieweit mehr „Privatisierung“ oder mehr „Vergesellschaftung“ zur Entfaltung der Leistungen von Familien führen und inwiefern Interventionen in das Private im Dienst des Wohles der Familienmitglieder zulässig bzw. geboten sind – so etwa für die Frage früher Prävention bei Kindeswohlgefährdungen (Stichwort Kinderschutz), für die Qualität familialer Erziehung (Stichwort Elternkompetenzen, Förderbedarfe, Wertevermittlung), für die Zumutbarkeit bzw. die Grenzen von flexibler Kinderbetreuung (Stichwort Kinderhotel), für die Diskussion um die Ganztagsschule sowie auch für die Regulierung von Erwerbs- und Familienverläufen (Stichwort Vätermonate und Optionszeitenmodell).
4. Dimensionen sozialer Ungleichheit in und zwischen Familien
Die Aspekte Gender, Region, Ethnie und Generation sind – ebenso wie Schicht und Milieu – relevante Dimensionen sozialer Ungleichheit. Der Ansatz der Intersektionalität weist jedoch darauf hin, dass einzelne Ungleichheitsdimensionen in spezifischen Konstellationen als relevant aktualisiert werden oder auch in den Hintergrund treten können. Zu unterscheiden ist zudem soziale Ungleichheit in und zwischen Familien sowie durch Familie reproduzierte soziale Ungleichheit. Zum einen bestimmt die soziale Lage einer Familie die Ressourcen und Handlungsoptionen ihrer Mitglieder sowie die Positionierung von Familien als Ganzes im sozialen Statusgefüge im Vergleich zu anderen Lebensformen. Zum anderen werden über die Herkunftsfamilie Muster sozialer Ungleichheit reproduziert und „vererbt“, indem die familiale Herkunft wesentlich über soziale Chancen ihrer Mitglieder entscheidet und dadurch Ungleichheitslagen immer wieder neu hervorbringt (beispielsweise Alleinerziehen, Sozialhilfeempfang).
Für die Abteilungsarbeiten gewinnt die Dimension Gender an Bedeutung, denn die spezifische Ausformung der Geschlechterverhältnisse in modernen Gesellschaften steht in zunehmend deutlich werdender Wechselwirkung mit Familie sowohl auf der alltagspraktischen als auch auf der institutionellen Ebene. Ausdruck findet die Verflechtung des Masterstatus Geschlecht mit Familie und ihren jeweiligen Kontextinstitutionen (wie etwa im Zusammenhang von Familiensystem und einem männlich strukturierten Erwerbssystem) in der Konstruktion des bundesdeutschen Wohlfahrtsstaates, der nach wie vor weitgehend auf dem männlichen Ernährermodell basiert, obgleich diesem zunehmend die ökonomische Basis entzogen wird, sowie im geschlechtlich konnotierten Zusammenspiel von Familie mit den Betreuungs-, Erziehungs- und Bildungsinstitutionen. Exemplarisch zeigt sich dies derzeit an den absehbar gravierenden Folgen der aktuellen Reform des Unterhaltsrechts, die auf ein Zweiverdienermodell – und damit auf die Erwerbstätigkeit auch von Müttern kleiner Kinder setzt, ohne dafür jedoch die strukturellen Rahmenbedingungen geschaffen zu haben und zu berücksichtigen, dass ein großer Teil der Mütter in Teilzeit oder aber marginalisiert erwerbstätig ist. Dieser in sich widersprüchliche Paradigmenwechsel wird genauer zu beobachten sein.
Familie ist einer der gesellschaftlich zentralen Orte, an dem sich, vor allem über Mechanismen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung sowie der Rollenzuweisung und -aneignung, die Ungleichheit der Geschlechter mit ihren unterschiedlichen Folgewirkungen und strukturellen Entsprechungen in den vielfältigen gesellschaftlichen Bereichen konstituiert und auch in der Betreuung und Erziehung der Kinder perpetuiert. Dies zeigt sich insbesondere in der Feminisierung öffentlicher und privater Erziehung und Betreuung sowie der weitgehenden Abwesenheit von Vätern in den Familien. Trotz Neuschneidungen im Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit und damit zusammenhängender partieller Erosionen im tradierten Geschlechterverhältnis sind Frauen und Männer nach wie vor in typisch unterschiedlicher Weise als Akteure und Betroffene in Familie eingebunden und entwickeln unterschiedliche Geschlechterkonzepte und Alltagspraktiken. „Care“, ob privat oder professionell erbracht, bleibt weitgehend Frauensache und wird mit „Mütterlichkeit“ assoziiert, obgleich auch Mütter zunehmend erwerbstätig sind. In diesem Zusammenhang ist das zentrale Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verorten. Die strukturelle Verknüpfung von Geschlecht und Familie hat nicht nur Auswirkungen auf die individuelle Lebensführung und Lebensplanung von Frauen und Männern sowie auf den geschlechtsspezifischen Umgang mit Mädchen und Jungen, sondern auch darauf, dass Familienpolitik immer noch vorwiegend als weibliche Domäne und „weiches“ Politikfeld angesehen wird. Auch wenn sich hier derzeit vor allem vor dem Hintergrund des demografischen Wandels Änderungen abzeichnen, muss das Thema Familie innerhalb der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnisse nach wie vor um die Anerkennung und Ressourcenausstattung ringen, die ihrer basalen Funktion für Gesellschaft und Wirtschaft angemessen ist.
Gender ist in allen Projekten der Abteilung relevant: als Geschlechterdifferenz, Geschlechterbeziehung, geschlechtsbezogene Handlungsmuster, Einstellungen, Leitbilder, normative Annahmen, Hierarchien, als Gewaltverhältnis sowie als Strukturzusammenhag ("gesellschaftlicher Reproduktionspakt").
Darüber hinaus gehen sowohl die sozialräumliche wie die ethnische Dimension in eine differenzierte Thematisierung von Familie ein. Ersteres gilt für die Regionalisierung familialer Lebensformen und Lebenslagen, ihrer Ressourcen und Leistungen, sowie für die Bedeutung des sozialen Nahraums für ein gelingendes Familienleben als auch für die räumliche Entfernung zwischen Familienmitgliedern, Haushalten, Arbeitsorten und Institutionen (Stichwort Multilokalität und Kopräsenz). Der zweite Aspekt nimmt Bezug auf den hohen und zunehmenden Anteil von Familien und Kindern mit Migrationshintergrund. Seine Beachtung trägt dem Umstand Rechnung, dass in Deutschland kulturell sehr unterschiedliche Ausprägungen von Familienleben- und formen sowie entsprechende Wertvorstellungen existieren, aber ebenso den damit einhergehenden diversifizierten Ressourcen, Bedarfen und Problemlagen von Familien mit Migrationshintergrund, die oft mit sozialer Ungleichheit korrelieren. So stellen Familien mit Migrationshintergrund einen überproportional hohen Anteil an Mehrkindfamilien.
Forschungstypen und Methoden
Die Vorgehensweisen der Abteilung sind praxis-, anwendungs- oder grundlagenorientiert. Angepasst an die Fragestellungen der Projekte wird eine Bandbreite unterschiedlichster Forschungstypen und -verfahren praktiziert, die von Begleit- und Evaluations-, Implementations- und Praxisentwicklungsforschung über qualitative und quantitative grundlagenorientierte Forschung bis zu dienstleistungsorientierter Recherche, Evaluation, Information, Beratung, der Durchführung von Workshops und Fachtagungen sowie Dokumentation reichen. Dabei werden auf der Basis fachlichen Wissens über die Situation und den Wandel von Familie aus der System- und Mitgliederperspektive spezifische Modelle, Instrumente und Maßnahmen zu ihrer geschlechter- und generationengerechten Unterstützung entwickelt, begleitet sowie evaluiert. Optimiert werden die projektbezogenen Vorgehensweisen durch themenübergreifende Kolloquia zu theoretischen und empirischen Fragen der Abteilung sowie durch die Erstellung regelmäßiger nationaler und internationaler familienwissenschaftlicher Forschungsüberblicke (z.B. Familienwissenschaftlicher Infoletter).