Weniger bewerten, mehr kooperieren
Die Prozessqualität in Kindertageseinrichtungen wird in Deutschland vorrangig an den Interaktionen zwischen Fachkräften und Kindern gemessen. Doch um die Qualität weiterzuentwickeln, ist auch der Dialog mit Kindern, Kolleginnen und Kollegen sowie Eltern erforderlich.
Von Katja Flämig[1]
Der globale Vergleich sozialer Systeme und der Wunsch zur Optimierung der Kindertagesbetreuung sowie ihrer empirischen Kontrolle haben dazu geführt, dass die frühe Bildung häufig anhand ihres Outputs – beispielsweise der Platzauslastung oder der Zufriedenheit von Eltern – bewertet wird. So haben sich etwa in Großbritannien ein staatlich vorgegebener Bildungsplan sowie ein standardisiertes Beurteilungssystem durchgesetzt. Kindertageseinrichtungen sind dort verpflichtet, ihre Qualität unter anderem daran überprüfen zu lassen, ob die Kinder bestimmte Lernziele erreicht haben. Dies klingt zunächst einleuchtend, allerdings sagt ein Kompetenzzuwachs des Kindes nur wenig darüber aus, ob es in einfühlsame und anregende Interaktionen mit pädagogischen Fachkräften und Gleichaltrigen eingebunden war oder ob es sich mit herausfordernden Aufgaben auseinandersetzen konnte. Dabei haben diese Merkmale der Interaktionsqualität nachweislich hohe positive Auswirkungen auf die Lern- und Entwicklungsprozesse des Kindes (Anders/Roßbach 2020). Gleichwohl ist ein linearer „Wirkpfad“ (Viernickel 2021, S. 121), der von der Entwicklung des Kindes direkt auf die Qualität einer Einrichtung oder gar des gesamten Bildungssystems schließen lässt, bisher nicht empirisch nachgewiesen.
Systematische Selbsteinschätzungen helfen bei der Qualitätssicherung
In Deutschland setzt man bei der Bewertung von Prozessqualität daher vor allem bei den Interaktionen an, in die das Kind in der Kindertageseinrichtung eingebunden ist. Die Interaktionsqualität wird über standardisierte Beobachtungen erfasst, die aus dem angloamerikanischen Raum adaptiert wurden und längst international etabliert sind (beispielsweise das Verfahren CLASS, Pianta u.a. 2008). In jüngster Zeit verbreiten sich außerdem immer mehr sogenannte zielkindbezogene Verfahren, die das einzelne Kind mit seinen Interaktionen – und nicht nur die Gruppe und das Verhalten der pädagogischen Fachkräfte – in den Blick nehmen (Schmidt u.a. 2018). Solche Beobachtungen werden häufig im Rahmen von Forschungsprojekten durch externe Personen durchgeführt. Diese Außenperspektive auf das Interaktionsgeschehen in den Kindertageseinrichtungen bringt durchaus Vorteile mit sich, wie etwa eine hohe Verlässlichkeit und Genauigkeit der Messungen, birgt aber auch einige Nachteile. So haben beispielsweise externe Personen nur wenig Kenntnisse zum pädagogischen Alltag, zur Teamkultur und zum Organisationsmilieu der Kindertageseinrichtung.
Eine höhere Akzeptanz in Kindertageseinrichtungen – und eine gewinnbringende Auseinandersetzung mit dem Konzept der messbaren Prozessqualität – kann erreicht werden, wenn pädagogische Fachkräfte eigenständig eine regelmäßige Selbsteinschätzung ihrer pädagogischen Arbeit vornehmen. In Deutschland ist dafür beispielsweise das Instrument „Gestaltung von Interaktionsgelegenheiten im Alltag“, kurz GInA (Weltzien 2014), entwickelt worden. Anhand von Videoaufnahmen, die das eigene Handeln oder das von Kolleg:innen dokumentieren, können pädagogische Fachkräfte sich systematisch und reflexiv mit ihrer persönlichen Interaktions- und Gesprächsbereitschaft, mit ihrem Fachwissen und ihrem methodischen Repertoire in der Interaktion mit Kindern auseinandersetzen. Ziel ist es, über diese Selbsteinschätzung auch die eigenen Handlungskompetenzen zu verbessern.
Leuvener Skala misst das Wohlbefinden und die Engagiertheit der Kinder
In deutschen Kindertageseinrichtungen weitverbreitet ist darüber hinaus die „Leuvener Engagiertheitsskala“ (Laevers 1993), die von einer Forscher:innengruppe an der Universität Leuven in Belgien entwickelt wurde. Als ein zielkindbezogenes standardisiertes Verfahren nimmt sie immer noch eine besondere Position in der Qualitätsbewertung ein (Eberlein/ Schelle 2019), insbesondere weil „Wohlbefinden“ und „Engagiertheit“ eines Kindes in Form von graduellen Abstufungen eingeschätzt werden können. Dem Verfahren liegt die Auffassung zugrunde, dass ein hohes Wohlbefinden und eine ausgeprägte Engagiertheit auf eine anregungsreiche Umgebung, wertschätzende Interaktionen und positive Beziehungsgestaltung in der Kindertageseinrichtung hinweisen – alles Indikatoren von Interaktions- und Prozessqualität. Als Signal für das Wohlbefinden gilt beispielsweise, wie ungezwungen und unbesorgt sich Kinder verhalten, ob sie Spaß haben und ob sie sich geborgen fühlen. Engagiertheit zeigt sich unter anderem durch Konzentration, Begeisterung, Motivation sowie Explorations- und Forscherdrang (Laevers 1993). Ein hohes Niveau von Engagiertheit gilt zudem als äußerst entwicklungsfördernd.
Den Fachkräften ermöglichen alle solche standardisierten Beobachtungsverfahren insgesamt eine hohe Vergleichbarkeit, einen Blick auf noch zu bearbeitende Defizite und ein Gefühl der Sicherheit, dass es sich um belastbare Messergebnisse handelt. Wie im Forschungsprojekt „Methodenstudie: Qualität in der Kindertageseinrichtung“ (MS Kita) am Deutschen Jugendinstitut (DJI) in den Jahren 2016 bis 2018 herausgearbeitet wurde, handelt es sich bei allen diesen Beobachtungsverfahren allerdings nur um Momentaufnahmen (drei bis zehn Minuten) eines vielschichtigen pädagogischen Alltags (Eberlein/Schelle 2019). Zunehmend wird darüber hinaus in der Wissenschaft darauf hingewiesen, dass bei diesen Verfahren die Sicht von Kindern und die Elternperspektive auf die pädagogische Arbeit fehlen (Schmidt 2018). Diese könnten beispielsweise Aufschluss darüber geben, welche Qualitätskriterien bisher kaum berücksichtigt wurden. Schließlich werden zur Beantwortung der Frage, ob das kindliche Wohlbefinden wirklich von der Qualität der Kita abhängt, weitere Informationen über das Interaktionsgeschehen in der Kita benötigt – und idealerweise auch über die Entwicklungsbedingungen der Kinder in ihren Familien.
Mit Fotos und Texten werden Beobachtungen dokumentiert, um die Bedürfnisse des Kindes in Beziehung zu seiner Umwelt zu verstehen
Neben der regelmäßigen Einschätzung der Interaktionsqualität ist es außerdem immens wichtig, dass die Fachkräfte ihr professionelles Handeln, vor allem die Interaktionsgestaltung, weiterentwickeln. In fast allen Bildungsplänen der Bundesländer sind daher Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren verankert, die (ebenfalls zielkindbezogen) die Aktivitäten eines Kindes im pädagogischen Alltag in den Blick nehmen. Wegen ihres niedrigschwelligen Zugangs und der Nähe zum Kind sind diese Verfahren in der frühpädagogischen Praxis sehr beliebt und weitverbreitet. Hierzu zählen zum Beispiel das „infans-Konzept der Frühpädagogik“ (Andres/Laewen 2011), der Ansatz des wahrnehmenden Beobachtens (Schäfer/Alemzadeh 2013), ein Beobachtungskonzept des Pestalozzi-Fröbel-Hauses, das Schemata im Verhalten des Kindes analysiert (Hebenstreit-Müller 2004) sowie die „Bildungs- und Lerngeschichten“ (Leu u.a. 2007).
Bei den beiden letztgenannten Verfahren handelt es sich um Adaptionen aus internationalen Diskursen: Das Konzept der Schemata wurde in den Early Excellence Centres in Großbritannien entwickelt; die Vorläufer der „Bildungs- und Lerngeschichten“ stammen aus Neuseeland. In allen diesen Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren fertigen die pädagogischen Fachkräfte Beschreibungen der Handlungen eines Kindes in Form von kleinen Texten an, auch Fotografien mit Handlungsabfolgen sind möglich. Insgesamt sind nur wenige Beobachtungsdimensionen vorgegeben, das lässt viel Spielraum für Interpretationen. Die Formate zielen darauf ab, die Interessen und Bedürfnisse des Kindes in Beziehung zu seiner Umwelt zu verstehen. Die schriftlich und/oder fotografisch festgehaltenen Beobachtungen werden anschließend offengelegt, mit den Kindern, Kolleg:innen sowie Eltern besprochen und in sogenannten Portfolios dokumentiert.
Diese recht kreative Vorgehensweise soll dabei helfen, Ansatzpunkte für pädagogische Maßnahmen zu finden, die auf das Wohlbefinden und die Interessen des jeweiligen Kindes zugeschnitten und damit entwicklungsförderlich sind. Es geht weniger um die Bewertung des pädagogischen Handelns, sondern eher um eine Intensivierung der Beziehungen zwischen Fachkraft, Kind und Eltern. Das Kind fühlt sich „anders wahrgenommen“ und lernt „in der Folge sich selbst positiv wahr[zu]nehmen“ (Viernickel 2020, S. 564). Von den pädagogischen Fachkräften verlangen diese Verfahren hohe Deutungskompetenzen (beispielsweise bei der Interpretation der Aktivitäten von Kindern), methodisches Wissen und Kommunikationsfähigkeiten. Diese werden im Prozess des Beobachtens, des Dialogs mit allen Beteiligten und der Dokumentation empirisch nachweisbar weiterentwickelt und ausdifferenziert (Weltzien/Viernickel 2008).
Qualitätsverbesserungen lassen sich am besten im Dialog erzielen
Somit werden durch die verschiedenen Beobachtungsverfahren auch Professionalisierungseffekte für das frühpädagogische Handlungsfeld selbst erzielt – denn sie etablieren dort eine „professionelle Begrifflichkeit bzw. disziplinäre Kommunikationspraxis“ (Viernickel 2020, S. 560). Im Unterschied zu standardisierten Kompetenzbewertungen, die eingangs am Beispiel Großbritanniens beschrieben wurden, beruhen diese interpretierenden Verfahren auf einem eher dialogischen Verständnis von Qualität (Schneider 2019). Sie basieren auf dem Grundgedanken, dass die Qualität pädagogischen Handelns immer wieder neu zwischen Kindern, Fachkräften, Eltern und Träger ausgehandelt werden muss. Außerdem betonen sie die notwendige enge Kooperation aller Akteur:innen, wenn die pädagogische Praxis qualitativ verbessert werden soll. Den Beteiligten stehen dafür mittlerweile mehrere passende Verfahren zur Auswahl, die sich gewinnbringend kombinieren lassen.
Anders, Yvonne / Rossbach, Hans-Günther (2020): Empirische Bildungsforschung zu Auswirkungen frühkindlicher, institutioneller Bildung: Internationale und nationale Ergebnisse. In: Braches-Chyrek, Rita u.a. (Hrsg.): Handbuch Frühe Kindheit. Opladen/Berlin/Toronto, S. 341–356
Andres, Beate / Laewen, Hans-Joachim (2011): Das infans-Konzept der Frühpädagogik. Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen. Weimar
Eberlein, Noemi / Schelle, Regine (2019): Methodische Herausforderungen bei der Bewertung der Kita-Qualität. Ergebnisse einer qualitativen Studie: Kurzbericht. München
Hebenstreit-Müller, Sabine (Hrsg.) (2004): Kinderbeobachtung in Kitas. Erfahrungen und Methoden im ersten Early Excellence Centre in Berlin. Berlin
Laevers, Ferre (Hrsg.) (1993): Die Leuvener Engagiertheits-Skala für Kinder LES-K. Erkelenz
Leu, Hans Rudolf u.a. (2007): Bildungs- und Lerngeschichten. Bildungsprozesse in früher Kindheit beobachten, dokumentieren und unterstützen. Weimar/Berlin
Pianta, Robert C. / La Paro, Karen M. / Hamre, Bridget K. (2008): Classroom Assessment Scoring System (CLASS) manual PRE-K. Baltimore/London/Sydney
Schäfer, Gerd E. / Alemzadeh, Marjan (2012): Wahrnehmendes Beobachten. Beobachtungen und Dokumentation am Beispiel der Lernwerkstatt Natur. Weimar/Berlin
SCHMIDT, THILO U.A. (2018): Interaktionsqualität in Kindertageseinrichtungen. Eine vergleichende Betrachtung standardisierter gruppenund zielkindbezogener Erhebungsverfahren. In: Diskurs, 13. Jg., H. 4, S. 459–476
Schneider, Armin (Hrsg.) (2019): Qualität im Diskurs entwickeln. Erfahrungen und Perspektiven im kompetenten System der Kindertagesbetreuung. Weimar
Viernickel, Susanne (2020): Beobachtung und Dokumentation. In: Braches-Chyrek, Rita u.a. (Hrsg.): Handbuch Frühe Kindheit. Opladen/ Berlin/Toronto, S. 559–570
Viernickel, Susanne (2021): Die empirisch gestützte Identifikation struktureller Qualitätsmerkmale und Standards in Institutionen frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung. In: Bilgi, Oktay u.a. (Hrsg.): »Qualität« revisited. Theoretische und empirische Perspektiven in der Pädagogik der frühen Kindheit. Weinheim, S. 116–132
Weltzien, Dörte (2014): Pädagogik: Die Gestaltung von Interaktionen in der Kita. Merkmale – Beobachtung – Reflexion. Weinheim
Weltzien, Dörte / Viernickel, Susanne (2008): Einführung stärkenorientierter Beobachtungsverfahren in der Kindertageseinrichtung. Auswirkungen auf die Wahrnehmung kindlicher Interessen, Dialogbereitschaft und Partizipation. In: Fröhlich-Gildhoff, Klaus/ Nentwig-Gesemann, Iris/Haderlein, Ralf (Hrsg.): Forschung in der Frühpädagogik. Freiburg im Breisgau, S. 203–234
Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 1/2023 von DJI Impulse „Frühe Bildung weiterentwickeln - Wie es um die Qualität der Kindertagesbetreuung in Deutschland steht und welche positiven Beispiele es aus anderen Ländern gibt“ (Download PDF[2]).