„Es fehlen Strategien, wie die Personallücke zu schließen ist“

DJI-Direktor Thomas Rauschenbach über Herausforderungen der Frühen Bildung im Jahr 2018 und wie diese bewältigt werden können

DJI: Herr Professor Rauschenbach, die institutionelle Kindertagesbetreuung hat in den vergangenen Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Vor welchen Herausforderungen steht dieser Bereich im Jahr 2018?

Thomas Rauschenbach: Wir haben lange Zeit gedacht, der Kita-Ausbau würde allmählich an Dynamik verlieren, weil in den Kommunen seit 2008 derart viele Plätze geschaffen wurden und weil der Rechtsanspruch für ein- und zweijährige Kinder schon seit Sommer 2013 gilt. Inzwischen sehen wir, dass das Gegenteil der Fall ist: Der vor uns stehende Ausbau ist größer als das bereits Erreichte, und er muss noch beschleunigt werden. Wir stehen vor immensen Herausforderungen.

Thomas Rauschenbach (Foto: David Ausserhofer)

Wie erklären Sie sich das?

Es kommen mehrere Entwicklungen zusammen, die vor drei oder vier Jahren nicht absehbar waren. So ist die Zahl der Geburten vor allem in den Jahren 2016 und 2017 deutlich höher, als die meisten Expertinnen und Experten erwartet haben und als es das Statistische Bundesamt prognostiziert hat. Das kann daran liegen, dass Paare nun ihre Kinderwünsche etwas häufiger realisieren, weil Beruf und Familie inzwischen tendenziell etwas leichter vereinbar sind. Es liegt aber auch daran, dass 2015 und 2016 eine große Zahl von Flüchtlingen nach Deutschland kam. Diese meist jungen Menschen hatten zum Teil bereits kleine Kinder, zum Teil haben sie in den ersten beiden Jahren in Deutschland Kinder bekommen. Inzwischen ist die massive Zuwanderung zwar beendet, aber viele dieser Kinder stehen noch auf den Wartelisten für die Kita-Plätze.

Im Jahr 2017 signalisierten bundesweit 45 Prozent der Eltern von ein- und zweijährigen Kindern den Wunsch nach einem Kita-Platz oder einer Tagespflege, 2005 waren es nur 35 Prozent.

Welche weiteren Entwicklungen machen mehr Kita-Plätze notwendig?

Unsere Erhebungen belegen, dass deutlich mehr Eltern einen Bedarf an Kita-Betreuung formulieren als vor gut zehn Jahren. Als wir 2005 am Deutschen Jugendinstitut eine erste empirische Bedarfserhebung durchgeführt haben, kamen wir zu dem Ergebnis, dass sich etwa 35 Prozent der Eltern für ihre Kinder unter drei Jahren eine außerfamiliale Kindertagesbetreuung wünschen. Das war schon damals ein hoher Wert. Inzwischen müssen wir feststellen, dass der Bedarf weiter gestiegen ist: Im Jahr 2017 signalisierten bundesweit bereits 45 Prozent der Eltern von ein- und zweijährigen Kindern den Wunsch nach einem Kita-Platz oder einer Tagespflege. Wobei es erstaunlich ist, dass sich diese Eltern eigentlich auf den Rechtsanspruch berufen können, dass aber in Westdeutschland 30 Prozent von ihnen trotzdem keinen adäquaten Kita-Platz finden. Bei beiden Faktoren, Demografie und Elternwünschen, haben die Kommunen kaum Spielräume – sie müssen Plätze, Plätze und nochmals Plätze schaffen.

Nach Ihren Berechnungen fehlen bis zum Jahr 2025 nicht nur viele Plätze, sondern auch bis zu 309.000 Fachkräfte in den Kitas. Wie kann diese drastische Personallücke geschlossen werden?

Unsere Berechnung zum Platz- und Personalbedarf in Kitas[1] stammt aus dem Sommer 2017, als wir noch nicht wussten, wie stark die Geburtenzahlen im Jahr 2016 steigen würden. Insofern müsste man die Zahl eigentlich schon wieder nach oben korrigieren, da die Geburten 2016 und 2017 deutlich höher ausgefallen sind. Unsere damaligen Daten zeigen aber bereits, dass zwar eine große Zahl an Nachwuchskräften zur Verfügung stehen wird, da die Ausbildungskapazitäten an Fach- und Hochschulen in den vergangenen Jahren massiv ausgeweitet wurden. Dennoch wird das nicht reichen, um den zusätzlichen Personalbedarf auszugleichen. Dafür gehen zu viele Fachkräfte in den nächsten Jahren in Rente. Hinzu kommen die gestiegenen Kinderzahlen und die noch nicht erfüllten Elternwünsche. Und letztlich muss das alles ortsgenau erreicht werden. Denn es hilft ja nicht, wenn im Kyffhäuserkreis noch Neuausgebildete zur Verfügung stehen, diese aber in Frankfurt oder München gebraucht werden. Und wenn darüber hinaus auch noch eine höhere Qualität erreicht werden soll – etwa durch die Verbesserung der Personalschlüssel –, ist nochmals deutlich mehr zusätzliches Personal erforderlich.

Wir müssen die Anstrengungen verstärken, den Arbeitsmarkt noch attraktiver zu machen, beispielsweise indem Fachkräfte tariflich wie andere Bildungsberufe eingruppiert werden.

Welchen Personalbedarf bringen Qualitätsverbesserungen konkret mit sich?

Schon geringe Verbesserungen der Personalschlüssel führen zu einem erheblichen Personalbedarf, einfach weil das Arbeitsfeld inzwischen so groß ist. Um nur eine Zahl zu nennen: Wir bräuchten rund 175.000 Beschäftigte mehr, wenn wir zwei zentrale Forderungen der Fachleute flächendeckend umsetzen würden – nämlich einen Personalschlüssel, bei dem eine Fachkraft für drei Kinder unter drei Jahren da ist und eine Fachkraft für sieben Kinder zwischen drei Jahren und dem Schuleintritt. Dass diese 175.000 Fachkräfte wünschenswert wären, wird niemand ernsthaft bestreiten. Gleichzeitig fehlen aber bislang klare Strategien, wie der zusätzliche Personalbedarf zu decken wäre.

Wie kann man das drohende Platz- und Personalproblem lösen?

Wir brauchen meines Erachtens hierfür ein mehrdimensionales Konzept. Zunächst müssen die verschiedenen Ausbildungsmöglichkeiten ausgeweitet und reformiert werden. Zudem müssen wir versuchen, mehr ausländische Fachkräfte mit guten Deutschkenntnissen zu gewinnen; es müssen aber auch für Fachkräfte, die nicht mehr berufstätig sind, Anreize zur Rückkehr geschaffen werden; daneben sollten Teilzeitkräfte – auch durch Geld – motiviert werden, mehr Stunden zu arbeiten; und schließlich müssen die Anstrengungen verstärkt werden, diesen Arbeitsmarkt noch attraktiver zu machen, indem Fachkräfte tariflich wie andere Bildungsberufe eingruppiert werden.

Zum Schluss noch eine andere damit zusammenhängende Frage: Die Bildungsbeteiligung hängt in Deutschland nach wie vor stark von der Herkunft ab. Familien mit Migrationshintergrund nehmen für ihre Kinder seltener Tagesbetreuungsangebote in Anspruch als Familien ohne Migrationshintergrund. Wie können zugewanderte Familien besser erreicht werden?

Zunächst muss man sehen, dass die Unterschiede in den Kita-Besuchsquoten keineswegs durchgängig so groß sind, wie oft unterstellt wird. Im Alter ab drei Jahren besuchen 84 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund eine Kita; das sind 14 Prozentpunkte weniger als bei Kindern ohne Migrationshintergrund. Das heißt aber auch, dass inzwischen acht von zehn dieser Kinder mehrere Jahre lang in eine Kita gehen. Bei den unter Dreijährigen ist der Abstand mit 20 Prozentpunkten größer. Dennoch sehen wir, dass in den vergangenen Jahren verstärkt Kinder in die Kitas gekommen sind, die zu Hause meist kein Deutsch sprechen – hier geht der Trend eindeutig in die richtige Richtung. Letztlich ist es sicher nicht nur die Frage, ob die zugewanderten Familien erreicht werden und sie einen Platz in der Kita möchten. Denn die Unterschiede bei den Besuchsquoten gehen trotz des Rechtsanspruchs auch darauf zurück, dass die „einheimischen“ Eltern im Gerangel um die zu knappen U3-Plätze erfolgreichere Strategien haben.