Der Perspektiven-Wechsler
Christian Alt hat wesentlich dazu beigetragen, die Sicht der Kinder in der Sozialberichterstattung zu stärken. Nun geht der Sozialwissenschaftler nach mehr als 30 Jahren am Deutschen Jugendinstitut in den Ruhestand.
Wer das Deutsche Jugendinstitut (DJI) kennt, kennt Christian Alt. Der Sozialwissenschaftler arbeitet seit 31 Jahren am Institut und blickt damit auf ein Berufsleben zurück, das in Zeiten des Job-Hoppings und der sogenannten flexiblen Karrierewege selten geworden ist. Als Christian Alt im Oktober 1988 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am DJI anfing, nachdem er zwei Jahre als Assistent an der Technischen Universität in München gearbeitet hatte, waren die Büros des DJI noch in der Freibadstraße in Untergiesing.

In den 1980er-Jahren begann das DJI als eine der ersten Einrichtungen europaweit, amtliche Daten über Kinder, Jugendliche und Familien systematisch aufzubereiten. Das Ziel war, die Lebensrealität von Familien und auch den Alltag von Kindern zu erfassen. Das erste Dokument, das bei Christian Alt auf dem Schreibtisch lag, war der Antrag für den Familiensurvey. Mit der ersten Befragungswelle unter dem Titel „Wandel und Entwicklung familialer Lebensformen“ wurde am DJI die Grundlage für eine langfristige Dauerbeobachtung von Familien gelegt.
Mitbegründer der empirisch orientierten Kindheitsforschung
Und doch sagt Christian Alt im Rückblick: „Die Perspektive der Forschung hat sich geändert. Als ich am DJI angefangen habe, hatten wir über jedes Kind in den untersuchten Familien Informationen. Sie stammten allerdings allesamt von den Müttern.“ Auf Anregung seines damaligen Kollegen Bernhard Nauck hat Christian Alt dann den „Datensatz gestürzt“: Nicht die Eltern, sondern die Kinder sollten ab sofort Gegenstand der Analysen werden. Damit hatte Christian Alt nicht nur sein Promotionsthema gefunden – die Kindheit in Ost und West –, sondern zugleich einen Paradigmenwechsel initiiert: Kinder waren in der Sozialberichterstattung zu Subjekten geworden, deren Alltag und deren Aktivitäten ins Zentrum des Interesses gerückt wurden.
„Christian Alts Verdienst am DJI war, dass er die empirisch orientierte Kindheitsforschung mitbegründet und vorangebracht hat. Es war damals nicht selbstverständlich, dass man Kinder als Subjekt und nicht als Objekt behandelt“, sagt der Familiensoziologe Prof. Dr. Hans Bertram, der von 1984 bis 1993 Direktor des DJI war. Zusammen mit den international anerkannten Familienforschern Wassilios E. Fthenakis und Hans Bertram hat Christian Alt damals ein Diskussionsforum gegründet. „Unser Ansatz war, Kindern eine Stimme zu geben und in der Kindheitsforschung nicht über, sondern mit den Kindern zu forschen. Und das hat sich irgendwann durchgesetzt“, sagt Alt.
Mit dem Kinderpanel, einer Längsschnittstudie, die das Aufwachsen von Kindern in Deutschland untersucht, wurden dann unter der Projektleitung von Christian Alt erstmals Kinder ab acht Jahren direkt befragt. „Der Wissenschaftliche Beirat am Institut hatte damals davon abgeraten mit dem Argument, dass die Informationen bei Kindern unter zehn Jahren nicht verlässlich seien. Ich war aber dafür, es zu versuchen, und habe dafür die Unterstützung von Hans Bertram erhalten“, erinnert sich Christan Alt.
Der neue Blick auf das Kind und die Familien
Im Jahr 2001 starteten die Forscher erstmals mit den Interviews: Sie untersuchten 1.100 Familien und interviewten dabei die Eltern und deren Kinder. In insgesamt drei Erhebungswellen wurde die Befragung im Abstand von eineinhalb Jahren wiederholt. Ziel des Kinderpanels war es, sowohl die Situation von Kindern in Deutschland zu beschreiben, als auch die Einflüsse verschiedener Lebenslagen auf die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder nachzuzeichnen. Nachzulesen sind die Ergebnisse unter anderem in der fünfbändigen Reihe „Kinderleben“, die Christian Alt herausgegeben hat.
„Auf einmal haben wir einen völlig anderen Blick auf Familien erhalten und festgestellt: Kinder sind gar nicht so schlecht in ihren Antworten. Kinder machen unglaublich präzise Aussagen über ihre Lebenswelt, die Beziehung zu ihren Eltern und die Situation in der Schule. Zu weiten Teilen berichten sie das, was auch die Mütter berichten, aber eben nicht ausschließlich“, sagt Christian Alt.
Der neue Blick auf das Kind in der Sozialberichterstattung spiegelte sich auch in gesellschaftlichen Veränderungen: „Mit dem Kind als Subjekt gingen andere Erziehungsvorstellungen und Werte einher. Kinder wurden anders erzogen, es war, wie es damals hieß, der Wechsel von einem Befehlshaushalt zu einem Verhandlungshaushalt in den Familien. Kinder wurden wesentlich partnerschaftlicher behandelt als zuvor.“ Was das in der Praxis bedeutete, hat Christian Alt als Vater von vier Töchtern selbst erlebt. Er weiß auch, welche Umstellung das für die damalige Elterngeneration war, der er letztlich selbst angehörte.
Seine interdisziplinäre Offenheit zeichnet ihn aus
Im Jahr 2005 wurde die letzte Erhebungswelle für das Kinderpanel durchgeführt. Doch die Idee, das Aufwachsen von Kindern unter Berücksichtigung ihrer eigenen Perspektive zu erfassen, ist auch in den aktuellen DJI-Survey „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“, kurz AID:A, eingeflossen, den das DJI seit 2009 in Abstimmung mit dem Bundesfamilienministerium durchführt. „Christian Alt ist für mich ein kreativer Kopf, der gute Ideen nicht nur entwickelt, sondern auch umsetzt“, sagt der langjährige Wegbegleiter und frühere DJI-Abteilungsleiter Walter Bien über die gemeinsame Forschungszeit.
Dass dies alles möglich war, dafür ist Christian Alt bis heute dankbar: „Das DJI ist eine Einrichtung, in der auch junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unglaublich viel erreichen können und viel Unterstützung erhalten“, sagt er. Vor allem das Denken und Arbeiten über Fächergrenzen hinweg habe ihn immer wieder beflügelt: „Ich habe eng mit Methodikern, also reinen Statistikern, zusammengearbeitet, genauso wie mit Psychologen, Pädagogen und Juristen.“ Seine große interdisziplinäre Offenheit schätzten gleichzeitig die Kollegen – unter ihnen Prof. Dr. Andreas Lange, der inzwischen eine Professur an der Hochschule Ravensburg-Weingarten innehat: „Christian Alt hat den Diskurs über Kinder und ihre Kindheit nicht nur durch seine zahlreichen empirischen Arbeiten vorangebracht, sondern auch durch seine interdisziplinäre Offenheit.“
Vom Jahr 2012 an hat das DJI unter der Leitung von Christian Alt die Umsetzung des Kinderförderungsgesetzes evaluiert, das einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für alle Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr festschrieb. Die sogenannten „KiföG-Studien“ kombinieren die Daten der amtlichen Statistik zum Ausbau der Kinderbetreuung mit Ergebnissen von Befragungen von Eltern, Einrichtungen und Tagespflegepersonen. „Um zu erkennen, wie sich Bedarf und Angebot annähern, muss man die Eltern befragen“, sagt Christian Alt.
In der aktuellen Kinderbetreuungsstudie (KiBS), in deren Rahmen bundesweit im Auftrag des Bundesfamilienministeriums der Bedarf an Betreuungsplätzen erhoben wird, setzt Christian Alt diese Tradition gemeinsam mit dem Forschungsverbund der Technischen Universität Dortmund fort, wobei nun auch Grundschulkinder im Fokus stehen. In einem aufwendigen Prozess werden die Antworten der Eltern mit der amtlichen Statistik abgeglichen, um zu verhindern, dass die Ergebnisse einen verzerrten Blick auf die Realität liefern. „Christian Alt hat mit den jährlichen KiBS-Befragungen ein Instrument entwickelt, mit dem die nach wie vor steigenden Elternbedarfe auf Bundes- und Länderebene gut abgebildet werden können. Das ist für Deutschland eine großartige Leistung“, betont DJI-Direktor Prof. Dr. Thomas Rauschenbach.
Mehr Zeit für entscheidende Fragen
Eines nimmt der Wissenschaftler, der auf mehr als 30 Jahre Berufserfahrung zurückblicken kann, ganz besonders wahr: den wachsenden Zeitdruck in der Forschung. „Mit dem Zeitdruck wachsen die Anforderungen an die methodischen Fragen. Stattdessen müssten wir uns wesentlich länger mit Theorien auseinandersetzen: Woran macht man denn zum Beispiel das Wohlbefinden von Familien fest? Was passiert etwa mit Kindern in der Betreuung unter drei Jahren, die länger als zehn Stunden in der Einrichtung sind?“, fragt der Familienforscher und ergänzt: „Die Soziologie muss immer nach den Zusammenhängen fragen. Dafür bleibt allerdings oft zu wenig Zeit.“ So ermögliche der Ausbau der Kinderbetreuung zweifelsohne, dass Mütter wieder früher auf den Arbeitsmarkt zurückkehren können. „Aber, wenn wir allein bei der Ökonomie stehenbleiben, haben wir das Wohlbefinden von Familien aus dem Auge verloren“, warnt Christian Alt.
Zu ruhig wird der Ruhestand für Christian Alt sicher nicht werden. Als Forscher wird er weiterhin aktiv bleiben. Vor fünf Jahren hat er sich zudem einen Weinberg gekauft: „Eigentlich wollte ich ja eine Streuobstwiese. Mein Traum war immer, einen Cidre zu machen.“ Aber nach so vielen Jahren am DJI weiß Christian Alt nur zu gut, dass das Leben manchmal anders läuft, als zunächst gedacht – war doch sein Vorsatz, als er seine erste Stelle am Institut annahm, nach spätestens fünf Jahren wieder vom DJI wegzugehen.
Text: Nicola Holzapfel