Straßenjugendliche
Straßenjugendliche dürfte es in Deutschland eigentlich gar nicht geben. Eltern oder ersatzweise die Kinder- und Jugendhilfe sind dafür verantwortlich, jungen Menschen ein Aufwachsen in Sicherheit zu gewähren und sie auf ein eigenständiges Leben vorzubereiten. Trotz einer Vielzahl an Unterstützungsangeboten gibt es jedoch zahlreiche junge Menschen – auch Minderjährige – die sich von Familie und Institutionen abgewandt haben und für die die Straße der Hauptsozialisationsort geworden ist.
Wie viele Straßenjugendliche gibt es?
Das DJI-Projekt Straßenjugendliche in Deutschland – eine Erhebung zum Ausmaß des Phänomen hat sich in einem Zeitraum von zwei Jahren (2015–2017) intensiv mit dieser Frage auseinandergesetzt. Um die Gruppe der Straßenjugendlichen besser definieren zu können, wurden zuerst rund 300 junge Menschen ohne festen Wohnsitz zu ihrer Lebenssituation befragt. Anschließend gaben rund 350 Fachkräfte, die in Einrichtungen arbeiten, die Straßenjugendlichen Hilfe anbieten, eine Einschätzung ab, zu wie vielen Jugendlichen sie pro Jahr Kontakt haben.
Hochgerechnet ergab sich daraus eine geschätzte Gesamtzahl von rund 37.000 Straßenjugendlichen in Deutschland ohne festen Wohnsitz. Zwar wirkt das Ergebnis auf den ersten Blick sehr hoch, in Bezug auf die gewählte Zielgruppe erscheint es jedoch realistisch. Zum einen standen im Mittelpunkt der DJI-Erhebungen nicht nur Minderjährige, sondern ebenso (junge) Volljährige bis zum Alter von 27 Jahren. Zum anderen bezog sich die Definition auf alle jungen Menschen ohne festen Wohnsitz, also sowohl auf Obdachlose als auch auf Wohnungslose. Gemeint sind also nicht nur Jugendliche, die ausschließlich auf der Straße leben und schlafen, sondern auch diejenigen, die beispielsweise bei Freunden oder in Notunterkünften unterkommen.
Geschätzte Anzahl der Straßenjugendlichen nach Alter

Die Gründe für Straßenkarrieren sind vielfältig und komplex. Häufig berichten die Jugendlichen von Gewalterfahrungen und/oder Verwahrlosungstendenzen in den Herkunftsfamilien. Außerdem spielen Armut, Arbeitslosigkeit, Überschuldung, niedrige Bildungsabschlüsse der Eltern sowie eine Suchtproblematik, wie beispielsweise Alkoholismus, bei mindestens einem Elternteil eine Rolle. Außerdem können auch auslaufende Hilfen oder Sanktionierungen durchs Jobcenter dazu führen, dass junge Menschen in Obdach- oder Wohnungslosigkeit geraten.
Die Entscheidung für das Leben auf der Straße wird in den seltensten Fällen plötzlich getroffen. Vielmehr kommen die Jugendlichen peu à peu in Kontakt mit der Szene, die ihnen deutlich attraktiver als Schule, Familie oder Unterbringung erscheint. Zunächst schlafen sie noch an ihrem Meldesitz, dehnen dann ihr Wegbleiben immer mehr aus, bis sie kaum noch bzw. endgültig nicht mehr nach Hause kommen. Aus Angst vor Sanktionen oder aufgrund eines mangelnden Aufsichtspflichtverständnisses wird dies von den Eltern aber nicht der Polizei gemeldet.

Die Straße übt für viele der Jugendlichen zunächst eine starke Anziehungskraft aus. Hier erleben sie häufig erstmals Zusammenhalt und Anerkennung. Um ihre Szenezugehörigkeit zu sichern, müssen sie dann jedoch die Bedingungen der Gruppe erfüllen und sich innerhalb einer Rangordnung positionieren, etwa um einen „Schnorrplatz“ zu erhalten.
Darüber hinaus wird die Zugehörigkeit oftmals durch das gemeinsame Konsumieren von Drogen hergestellt. Dadurch stehen die jungen Menschen häufig unter starkem Druck, weil sie das für den Drogenkonsum benötigte Geld beschaffen müssen – sei es illegal oder auf legalem Wege. Viele der jüngeren Straßenjugendlichen distanzieren sich anfangs noch von der harten Drogenszene, allerdings steigt mit der Dauer des Aufenthalts auf der Straße und der Verfestigung der Straßenkarriere auch die Gefahr des Konsums harter Drogen. Dies ist deutlich stärker bei wohnungslosen jungen Erwachsenen der Fall, die in ihren Endzwanzigern sind, so die Einschätzung der befragten Sozialarbeiter/innen in den Experteninterviews. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Studie zum Gesundheitsverhalten obdachloser Jugendlicher: Fast alle der Befragten nahmen regelmäßig und in hoher Dosis Alkohol und Cannabis zu sich.
Viele Straßenjugendliche haben nicht nur unter physischen gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu leiden, sondern auch unter seelischen Belastungen. Im Verlauf ihrer Straßenkarrieren erleben sie zahlreiche Frustrationssituationen. Langeweile, Gruppendruck oder existenzielle Ängste lösen häufig den Wunsch aus, wieder ein konventionelles Leben führen zu wollen. Dabei unterscheiden sich die Zukunftswünsche im Übrigen gar nicht so sehr von jenen anderer Jugendlicher.
Allerdings gestaltet sich die Loslösung von der Straßenszene schwierig, da die Einsicht über eine langfristig drohende Verelendung erst kommt, wenn die Jugendlichen sich von Institutionen, wie z. B. der Schule, bereits weit entfernt haben und ihnen somit die für eine erfolgreiche Reintegration notwendigen Zugangsvoraussetzungen zu einer weiterführenden Ausbildung, wie etwa Schulabschlüsse, fehlen. Zugleich erleben sie eine Ablehnung durch die Mehrheitsgesellschaft, die der Ansicht ist, dass die Jugendlichen selbst schuld an ihrer Lage sind. Um ihre Glaubwürdigkeit und Hilfebedürftigkeit nachzuweisen, sind sie zudem gezwungen, ihre traumatischen Erlebnisse immer wieder gegenüber den Behörden zu schildern.
Viele der betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen versuchen, Kontakt zu – zumindest niedrigschwelligen – Angeboten der Jugendhilfe zu halten. Es fällt auf, dass vor allem Beratungsangebote (45%) und am zweithäufigsten Überlebenshilfen (28%) genutzt werden: Erstere werden insbesondere von wohnungslosen Jugendlichen genutzt. Bei obdachlosen Jugendlichen, die sich in erster Linie um Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken oder Schlafen kümmern müssen, stehen Überlebenshilfen im Vordergrund.
Zeigt sich bei Minderjährigen noch ein Anteil von 64%, der Kontakt zum Jugendamt hat, sind es bei den 18- bis einschließlich 20-Jährigen nur noch 14%; und bei den über 20-Jährigen gibt es gar keine Befragten in der Stichprobe mehr, die Kontakt zum Jugendamt haben. Der Zusammenhang der beiden Variablen wurde statistisch bestätigt. Die Daten spiegeln die gängige Praxis wider, wonach die Jugendhilfe für junge Menschen mit dem 18. Geburtstag tendenziell eingestellt wird, obwohl eine Fortsetzung der Unterstützung rechtlich absolut möglich wäre. So werden junge Menschen nicht selten ans Jobcenter als zuständigen Sozialleistungsträger weiterverwiesen, obwohl „Hilfen für junge Volljährige“ bei 18- bis 21-Jährigen eine „Soll-Leistung“ und ab dem 21. Lebensjahr eine „Kann-Leistung“ der Jugendhilfe darstellen.
Wie die Daten zeigen, nimmt mit Erreichen der Volljährigkeit das Jobcenter eine zentrale Rolle ein: Ab dem 18. Lebensjahr haben hier über 70% der Befragten Kontakt. Dies ist allerdings nicht unproblematisch, denn anders als in der Jugendhilfe ist mit den Leistungen im SGB II-Bezug kein erzieherischer Auftrag verbunden, sondern handlungsleitend sind die Vermittlung in Ausbildung und Arbeit sowie das Prinzip des „Fordern und Förderns“. So fühlen sich die Jugendlichen durch die hohen Anforderungen im SBG II häufig überfordert, und bereits eine zweite Pflichtverletzung kann zum vollständigen Wegfall der Leistungen – auch der Kosten für die Unterkunft – und somit zu Obdachlosigkeit führen.
Das DJI hat von 2015 bis 2017 vier Modellprojekte wissenschaftlich begleitet, die zum Ziel haben, minderjährige Straßenjugendliche an Hilfsangebote heranzuführen, sie auf die Wiederaufnahme von schulischer und beruflicher Bildung vorzubereiten und sie bei diesem Übergang zu unterstützen. Dabei führte das DJI sowohl mit den Projektverantwortlichen als auch mit den jungen Menschen selbst, die an den Modellprojekten teilnahmen, zu mehreren Zeitpunkten Interviews. Darüber hinaus wurden im Rahmen von sogenannten teilnehmenden Beobachtungen die Kommunikationsstrukturen in den Modellprojekten untersucht.
Um Jugendliche bei der Beendigung ihrer Straßenkarriere zu unterstützen, müssen sie Gelegenheit haben, ihre Verhaltensweisen mit Vertrauenspersonen zu reflektieren und die Chance bekommen, über spezielle Angebote ihre Kompetenzen (wieder) zu entdecken, sich auszuprobieren und erste Erfolgserlebnisse zu sammeln. Im Idealfall entwickeln sich in diesem Prozess individuelle, realistische Zukunftsvorstellungen, die die Voraussetzung für gelingende Hilfeprozesse darstellen.
Die Grundlage für solche „Empowerment-Prozesse“ stellen Angebote dar, die zwischen reiner Notversorgung und reiner Beratung angesiedelt sind und sich auf die individuelle Lebenslage und das unterschiedliche Tempo der Jugendlichen einstellen können. Charakteristisch für den Hilfeprozess sind die Phasen „Building“ (Kontaktherstellung), „Bonding“ (Bindungsaufbau) und „Bridging“ (Unterstützung beim Übergang). Idealerweise bauen diese Schritte aufeinander auf, sind aber jederzeit durchlässig, um den Hilfeprozess in Form von Beratung und Begleitung der Jugendlichen zu starten.
