Gestalter, Motivator, Mittler

Er war ein führender Kopf hinter vielen Kinder- und Jugendberichten: Engagiert und innovativ setzte Christian Lüders sich für neue Themen und Methoden ein – und hat dabei Diskussionen nie gescheut. Nach 26 Jahren am Deutschen Jugendinstitut geht der Abteilungsleiter nun in Rente.

Kürzlich ist der 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung erschienen, die Geschäftsführung lag wie bei den Berichten zuvor beim Deutschen Jugendinstitut (DJI), das Thema diesmal: politische Bildung und Stärkung von Demokratie. „Einen Ruck“ wünscht sich Dr. Christian Lüders nun, den ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog zitierend, einen Ruck, „der durch Politik und Fachpraxis geht“.

Für den scheidenden Leiter der DJI-Abteilung „Jugend und Jugendhilfe“, in dessen Zuständigkeit seit 1995 die Geschäftsführung für die Kinder- und Jugendberichte lag, ist die Publikation ein wichtiger Baustein der wissenschaftlichen Politikberatung – und eine große Chance, Themen auf die Agenda zu setzen, die sonst wenig Aufmerksamkeit bekommen. Denn der Bericht führt dazu, dass Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat sich mit kinder- und jugendpolitischen Fragen auseinandersetzen müssen. 

„Christian Lüders hat die deutschen Kinder- und Jugendberichte geprägt wie kein anderer. Als Chefberater, Ghostwriter, Mahner, Lückenfüller, Manager, Motivator und Berichterstatter hat er seit Mitte der 1990er-Jahre an allen Berichten geschäftsführend mitgewirkt, war immer das Bindeglied zwischen Ministerium, Institut und Kommission“, betont DJI-Direktor Prof. Dr. Thomas Rauschenbach. „Er hat der Berichterstattung über die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland seinen Stempel aufgedrückt.“

Auch der aktuelle Bericht zur Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter zeigt, wo die Politik und Fachpraxis nachsteuern müssen: Grundschulhorte und politische Bildung? Jugendberufshilfe und politische Bildung? Stationäre Unterbringung und politische Bildung? „Es gibt pädagogische Bereiche, da fehlen bislang jegliche Konzepte“, sagt Lüders. In Zeiten zunehmender Verunsicherung und Radikalisierung sei das eine gefährliche Ausgangslage, so der Erziehungswissenschaftler. Antidemokratische Protestbewegungen hätten auch in Deutschland Zulauf. „Demokratie ist kein Selbstläufer; in jeder Generation muss neu für sie geworben werden.“

Christian Lüders hat die deutschen Kinder- und Jugendberichte geprägt wie kein anderer. Als Chefberater, Ghostwriter, Mahner, Lückenfüller, Manager, Motivator und Berichterstatter hat er seit Mitte der 1990er-Jahre an allen Berichten geschäftsführend mitgewirkt.
DJI-Direktor Prof. Dr. Thomas Rauschenbach

Interesse für Politik wird schon durch seine Eltern geweckt

Sensibilisiert für Politik wird Lüders schon im Elternhaus. Sein Vater, Jahrgang 1922 und nach der Rassenlehre der Nazis ein „Halbjude“, kommt als junger Mann in ein Arbeitslager und überlebt den Holocaust nur knapp. „Meine Eltern waren beide sehr wachsam gegenüber extremistischen Strömungen, egal ob von rechts oder links“, erzählt der 1953 geborene Lüders. Den Sohn prägt diese Haltung – sowie das ehrenamtliche Engagement des Vaters. Christian Lüders tritt den Pfadfindern bei, wird Gruppenleiter und organisiert als Jugendlicher Freizeiten und Zeltlager. Dabei habe er bereits erste Erfahrungen gesammelt, die ihm Jahrzehnte später beruflich behilflich sein sollten: „Verbandliche Jugendarbeit funktioniert nur, wenn man es schafft, alle Beteiligten mitzunehmen, zu motivieren und zu begeistern.“

Lüders sitzt in seinem heimischen Arbeitszimmer, während dieses Gespräch über Videocall stattfindet; eine persönliche Begegnung ist wegen des Lockdowns nicht möglich. Seit März 2020 befindet sich das Deutsche Jugendinstitut weitgehend im Homeoffice. Für Lüders hatte die pandemiebedingte Ausnahmesituation auch Vorteile: „So wurde mir der Übergang in den Ruhestand erleichtert. Ich konnte die vergangenen Monate bereits nutzen, um meine Tagesstruktur neu zu organisieren und meine Kommunikationsformen umzubauen.“ Doch zugleich fehlt der persönliche Dialog mit der Abteilung, den Lüders so schätzt. „Ich habe Zeit meines Lebens immer den Austausch gesucht.“

Nach dem Abitur studiert der gebürtige Münchner ab 1976 Erziehungswissenschaft, Soziologie und Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität. Anders als bei den heutigen verschulten Bachelor-Studiengängen genießt der Student damals alle Freiheiten der akademischen Selbstbildung, schnupperte in viele Themen und Fächer hinein. „Vor allem sozialwissenschaftliche Forschung, Konzepte und Theorien haben mich interessiert – wie kann man sich bestimmte Phänomene erklären? Wie hängen die Dinge miteinander zusammen?“ Angesichts seiner Begeisterung für wissenschaftliche Fragestellungen scheint eine Forscherlaufbahn naheliegend.

Grabenkämpfe an den Universitäten schrecken ihn ab

Nach dem Magister wechselt Lüders an die Universität der Bundeswehr in München-Neubiberg. Am Lehrstuhl Sozialpädagogik von Professor Walter Hornstein (ehemaliger Direktor des Deutschen Jugendinstituts von 1967 bis 1977) bleibt Lüders einige Jahre als Mitarbeiter und Assistent, beendet erst die Promotion und beginnt dann ein Habilitationsprojekt. Doch die Zweifel wachsen. Lüders hadert mit „dem professoralen Habitus“, den er an vielen Universitäten beobachtet, sowie mit den trägen Verwaltungsapparaten. „Ich war mir nicht mehr sicher, ob die Universität der richtige Ort für mich ist.“ Zumal ihn, neben Forschung und Lehre, auch die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Fachpraxis brennend interessiert.

In diese Situation platzt ein Anruf von Ingo Richter, seit 1993 Direktor des Deutschen Jugendinstituts. Ob er sich nicht auf die freie Abteilungsleiterstelle bewerben wolle? „Das war mir gar nicht in den Sinn gekommen“, erinnert sich Lüders. Schließlich seien die Fußstapfen groß gewesen, die der Vorgänger Richard Münchmeier in der „Abteilung I“ (heute: „Jugend und Jugendhilfe“) hinterlassen hatte. Doch Richter lässt nicht locker und so klappt es schließlich: 1994 wechselt Lüders in die Freibadstraße 30 im Stadtteil Au, wo damals das DJI untergebracht war. Er habe beim Deutschen Jugendinstitut von Beginn an eine derart inspirierende, kollegiale und forschungsfreundliche Arbeitsumgebung vorgefunden, „dass es mich nie wieder von dort wegzog“.

Den Standort in Ostdeutschland will Lüders unbedingt erhalten

Dabei sind die Anfangsjahre aufwühlend und anstrengend. Gerade erst hat sich Deutschland wiedervereinigt; auch am DJI ist einiges im Umbruch. 1990 ist das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz in Kraft getreten, das derzeit mal wieder reformiert werden soll und das damals viele Neuerungen für die Fachpraxis und Herausforderungen für die Forschung mit sich bringt. Das DJI hat außerdem seit 1991 eine Außenstelle in Leipzig, für die Christian Lüders teilweise zuständig ist. Teile des Zentralinstituts für Jugendforschung der DDR (genauer gesagt: einzelne Studien) wurden in das Deutsche Jugendinstitut integriert. „Diese Konstruktion war anfangs sehr fragil.“ Lüders kämpft für eine Stabilisierung und Verstetigung, will den Standort in Ostdeutschland unbedingt halten. „Ich war überzeugt davon, dass wir vom Westen aus immer einen verzerrten, buchstäblich schrägen Blick auf die Jugendphänomene der ostdeutschen Bundesländer haben würden.“ Es brauche ein zweites Standbein, fordert er. Dass die Außenstelle, die mittlerweile in den Frankeschen Stiftungen in Halle an der Saale beheimatet ist, heute mit mehr als 100 Mitarbeitenden ein zentraler Pfeiler des Deutschen Jugendinstituts ist, das ist sicher auch Lüders damaliger Hartnäckigkeit zu verdanken.

Mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist Lüders bald bestens vernetzt; regelmäßige Besuche erst in Bonn, später in Berlin sind für ihn selbstverständlich: „Meinen Job kann man nicht machen, indem man sich hinter dem eigenen Schreibtisch verschanzt.“ Dem Bund kommt in der föderalen Ordnung Deutschlands im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe vorrangig eine „anregende“ Funktion zu. Ein wichtiges Instrument sind dabei Bundesmodellprogramme, die unter anderem von Lüders Abteilung wissenschaftlich begleitet werden. Rund um die 2000-er Jahre wandeln sich allerdings die Erwartungen an die Wissenschaft. In Zeiten knapper öffentlicher Kassen sollen die Forscherinnen und Forscher nicht mehr nur „beobachtend begleiten“, sondern auch fachlich bewerten. Es geht um die Unterscheidung zwischen gelingender und weniger gelingender Praxis, Politik und Gesetzgebung. Erste Debatten um Wirkungsnachweise kommen auf.

Debatte um Evaluationsmethoden wird schärfer

Doch was ist das überhaupt – Wirkung? „Die landläufige Vorstellung einer unilinearen, quasi naturwissenschaftlich überprüfbaren Wirksamkeit von pädagogischen Maßnahmen ist irreführend“, betont Lüders. „Junge Menschen sind keine Trichter, pädagogische Praxis ist keine Technologie!“ Lüders, der selbst aus der Methodenforschung kommt, findet sich inmitten einer bis heute andauernden, scharf geführten Debatte wieder. „Meine Abteilung und ich waren die Reibungsfläche für viele. Mehr als einmal hat es gekokelt und Rauch stieg auf.“ So gibt es einerseits die neuen Erwartungen seitens der Politik und der Öffentlichkeit. Auf der anderen Seite steht die Fachpraxis, die mit guten Gründen befürchtet, mit unangemessenen Verfahren auf den Prüfstand gestellt zu werden.

Lüders macht keinen Hehl aus seiner Meinung: Es sei richtig, dass die Politik die eigene Gesetzgebung und Förderung kritisch hinterfrage. Aber die Folgen pädagogischer Interventionen seien nun mal nicht monokausal zu erklären und zu vermessen. Beispiel politische Bildung: Was war es denn nun, das einzelne Jugendliche in wirtschaftlich abgehängten Regionen vor der politischen Radikalisierung geschützt hat? Eine Lehrerin, ein Erzieher, ein außerschulisches Angebot – oder viele Faktoren zugleich? „Da geht es um komplexe biografische Prozesse,“ sagt Lüders. Diese evidenzbasiert nachzuzeichnen, sei eine wissenschaftlich extrem diffizile Angelegenheit.

 

Die landläufige Vorstellung einer unilinearen, quasi naturwissenschaftlich überprüfbaren Wirksamkeit von pädagogischen Maßnahmen ist irreführend. Junge Menschen sind keine Trichter, pädagogische Praxis ist keine Technologie!
Dr. Christian Lüders

Er will sich weiter zu Wort melden und engagieren

Wenn nach der Pandemie die Staatsverschuldung massiv zugenommen hat und der Staat über Einsparungen nachdenken muss, werden auch Kinder- und Jugendhilfemaßnahmen wieder verstärkt auf den Prüfstand kommen, davon ist Lüders überzeugt. Schon deshalb wird er sich nicht gänzlich aus der aktuellen Evaluationsdebatte zurückziehen. Auch seinen Ehrenämtern, darunter der Vorsitz des Landesjugendhilfeausschusses in Bayern, bleibt er treu. Unabhängig davon hat er auch andere Pläne für den nächsten Lebensabschnitt. Die Verfolgung und Inhaftierung seines Vaters in der NS-Zeit würde er gerne aufarbeiten. Und dann ist da noch seine berühmte Großtante Marie-Elisabeth Lüders (1878-1966), Sozialpolitikerin und Frauenrechtlerin. Sie war an der Erarbeitung des ersten Jugendhilfegesetzes, des sogenannten Reichsgesetzes für Jugendwohlfahrt (RJWG), beteiligt, das im Juli 1922 veröffentlicht wurde und am 1. April 1924 in Kraft trat. „Ich habe meine Großtante als Kind noch kennengelernt, sie hat mich sehr beeindruckt“, erzählt Lüders, der sich in den kommenden Jahren in Archiven auf die Spuren der Politikerin und des RJWG begeben will.

Was ihm im Ruhestand besonders fehlen wird? Darüber muss er nicht eine Sekunde nachdenken: „Die großartigen Kolleginnen und Kollegen am Deutschen Jugendinstitut und der über Jahrzehnte gewachsene Austausch untereinander!“ Die Abteilung „Jugend und Jugendhilfe“ ist seit Lüders Einstieg in den 1990-er Jahren von etwa 30 auf knapp 80 Mitarbeitende angewachsen. „Und wenn Sie mich fragen, wer in all den Jahren von wem mehr gelernt hat?“ Dann sei die Antwort für ihn ebenso klar: „Ich habe definitiv mehr von meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gelernt als umgekehrt.“

Text: Astrid Herbold
Foto: David Ausserhofer


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