Tiefenscharfer Blick auf die Familie[1]

Die Soziologin Karin Jurczyk fordert ein radikales Umdenken in der Familien- und Arbeitsmarktpolitik und eine Anerkennung von Sorgearbeit in der Familie. Ein Gespräch anlässlich des Abschieds der engagierten Familienforscherin vom Deutschen Jugendinstitut.

Ein helles Büro im ersten Stock des Deutschen Jugendinstituts (DJI) in München: Die Familiensoziologin Dr. Karin Jurczyk sitzt an ihrem Schreibtisch. Sie ist kaum zu sehen hinter unzähligen hohen Papier- und Bücherstapeln. Jetzt räumt sie gründlich auf, denn Ende Mai 2019 tritt sie in den Ruhestand.

DJI:  Seit dem Jahr 2002 sind Sie Leiterin der Abteilung „Familie und Familienpolitik“ am DJI. Was bedeutet für Sie Familie?

Dr. Karin Jurczyk: Für mich bedeutet Familie weit mehr als Vater, Mutter, Kind. Das tradi­tionelle Familien­ver­ständnis passt nicht mehr zum vielfältigen Familienleben. Familie ist ein Zusammenhalt der Men­schen, die sich darauf einigen, dass sie sich umeinander küm­mern. Bei Kindern ist dies kein Einigungs­prozess, den sie willentlich eingehen, vielmehr kommen sie in eine solche sorgende Gemeinschaft hinein. Zentrale Merkmale von Familie sind Verbindlichkeit, Sorge für einander, Mehrgenerationenzusammenhang und die Privatheit der Lebensform. Derzeit geht es in der öffentlichen Diskussion jedoch meist nur um junge Eltern, die ihre kleinen Kinder versorgen. Dieser Blick ist zu eng. Wenn ich mich als 50-jährige Tochter um meine alten Eltern kümmere, ist das auch eine familiale Sorgebeziehung. Eine professionelle Betreuung und Pflege in Heimen und Kindertageseinrichtungen ist demgegenüber etwas anderes als eine private Lebensgemeinschaft.

Familie ist ständig im Wandel. Was ist neu?

Es gab schon immer Stieffamilien oder alleinerziehende Frauen, allerdings waren die Entstehungsgründe für diese Lebensformen andere. Heute sind vielfältige Lebensformen möglich, die in persönlichen Beziehungen zunehmend selbst gestaltet und immer wieder neu ausbalanciert werden. Eltern sind verheiratet oder nicht, heterosexuell oder gleichgeschlechtlich, wohnen zusammen oder getrennt, erziehen alleine oder leben mit einem neuen Partner zusammen, ein Partner oder beide sind erwerbstätig. Auch neue Wege zu Elternschaft mit Hilfe der Reproduktionsmedizin sind möglich. Die biologische, genetische, rechtliche und soziale Elternschaft muss nicht mehr miteinander identisch sein, sie treten beispielsweise Leihmutterschaft und Samenspenden auseinander.

Die Arbeitsbedingungen müssen sich an die Familien anpassen – nicht umgekehrt

Nun zu Ihnen selbst: Wie war Ihr Start am DJI?

Damals arbeiteten 220 Menschen am DJI und 28 in der Abteilung, heute sind es 400 am Institut und 76 in der Abteilung. Der Einstieg war nicht reibungslos, denn ich kam mit hohen universitär geprägten Ansprüchen und eigenen Vorstellungen. Ein wichtiger Meilenstein am Anfang war für mich die gute wissenschaftliche Zusammenarbeit mit dem DJI-Direktor Thomas Rauschenbach bei einem Gutachten zur Kindertagespflege.

Sie forschen an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik. Worauf sind Sie besonders stolz?

Auf meine Mitarbeit am Siebten Familienbericht der Bundesregierung, der eine große Strahlkraft hatte und immer noch hat. Im Jahr 2003 übernahm das DJI die Geschäftsführung. Entsprechend der Vorgaben der damals amtierenden Familienministerin Renate Schmidt (SPD) hatte der Bericht die Gesamtsituation von Familien in Deutschland im Fokus und die familienpolitischen Perspektiven für einen Zeitraum von zehn bis fünfzehn Jahren. Ich war kooptiertes Mitglied der für den Bericht zuständigen wissenschaftlichen Kommission. Wir haben sehr intensiv politisch diskutiert, unsere Expertise zusammengetragen und einen wegweisenden Familienbericht auf den Weg gebracht.

Unter dem Titel „Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik“ legten wir ihn im Jahr 2006 vor. Das Ergebnis war der inzwischen berühmt gewordene Dreiklang einer nachhaltigen Familienpolitik: Zeitpolitik im Lebenslauf und im Alltag, die Entwicklung integrativer Infrastrukturen in Nachbarschaft und Gemeinde sowie passgenaue finanzielle Unterstützung zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit von Familie. Erstmals in den Fokus kamen die Optionszeiten, die es ermöglichen sollen, phasenweise eine berufliche Auszeit mit Lohnersatzanspruch nehmen zu können. Ein Vorschlag zu Elternzeit und Elterngeld wurde 2007 unmittelbar umgesetzt.

Darauf, dass das Thema Zeitpolitik, das inzwischen in der Familienpolitik fest verankert ist, als dritte Säule neben Infrastruktur und Geld in den familienpolitischen und wissenschaftlichen Diskurs aufgenommen wurde, bin ich stolz. Ich habe damals das entsprechende Kapitel gemeinsam mit der Ökonomin und Soziologin Uta Meier-Gräwe geschrieben.

Eine Familie hat man nicht einfach, man muss sie „tun“

Welches Themenfeld ist Ihnen darüber hinaus sehr wichtig?

Ein weiterer Meilenstein ist für mich die Studie mit Michaela Schier, Peggy Szymenderski, Andreas Lange und G. Günter Voß aus dem Jahr 2009: „Entgrenzte Arbeit – entgrenzte Familie. Grenzmanagement im Alltag als neue Herausforderung“. In der qualitativen Untersuchung von Müttern und Vätern in Ost- und Westdeutschland haben wir den aktuellen Familienalltag in seiner spannungsreichen Verknüpfung mit der immer stärker entgrenzten, das heißt zeitlich flexiblen und räumlich mobilen Erwerbsarbeit der Eltern untersucht. In diesem Zusammenhang wurde deutlich, wie eng das Geschlechterthema mit dem Familienthema verbunden ist. Wir haben mit diesem Ansatz auch die Väterforschung in der Abteilung gestärkt.

Was bedeuten diese vielfältiger gewordenen Lebensformen für Kinder?

Darüber, wie sich diese komplexen Elternschaften auf Kinder auswirken, weiß man zu wenig. Mit normativen Annahmen dazu sollte man aber vorsichtig sein und sehr genau hingucken. Es stellen sich viele Fragen: Gibt es Vorteile neuer Familienformen für Kinder? Sind die Eltern vielleicht glücklicher? Ist eine gelingende Stieffamilie für Kinder besser als eine konflikthafte Herkunftsfamilie, auch wenn sie etwa damit umgehen müssen, dass sie einen Stiefvater und einen leiblichen Vater haben?

Sie haben den Ansatz „Doing Family“ geprägt. Was verstehen Sie darunter?

Das permanente Gestalten des Familienlebens unter komplexen Rahmenbedingungen nennen wir „Doing Family“. Eine Familie hat man nicht einfach, man muss sie „tun“. Familie ist nicht nur eine Institution, die im Familienrecht verankert ist, sondern eine Institution, die durch alltägliche Praxen immer wieder neu hergestellt und gelebt wird. Uns interessieren dabei alle Tätigkeiten aller Akteure in einer Familie: Eltern, Kinder, Geschwister, Großeltern und andere. Der tiefenscharfe Blick auf die Alltagspraxen von Familie in ihrer zeitlichen, räumlichen, emotionalen und auch körperlichen Dimension wurde bisher von der Forschung vernachlässigt. Hier setzen wir an und bearbeiten aktuell auch die Perspektive des „Undoing Family“, das heißt das Auflösen, Schädigen, Weggehen, Ignorieren und in Frage stellen von Familienbeziehungen.

Dr. Karin Jurczyk studierte Soziologie und Politologie in München und promovierte an der Universität Bremen über Familienpolitik als andere Arbeitspolitik. Sie lehrte an den Universitäten Gießen, Kassel, Marburg, Innsbruck und München. Ihre Forschungsarbeiten und Publikationen thematisieren den Zusammenhang von Familie und Beruf, Gender, Zeit, alltägliche Lebensführung, Sorge – und dies alles auch aus einer politischen Perspektive.

Ein Portrait der Familienforscherin Karin Jurczyk in DJI-Impulse 1/2019[2]

Sie sprechen von einer Sorgekrise, da Menschen, die zu Hause kleine Kinder betreuen, kranke oder alte Angehörige pflegen in unserer Gesellschaft kaum Anerkennung erhalten. Was ist zu tun?

Beide Elternteile sind heute dem Erwartungsdruck ausgesetzt, Geld zu verdienen, ihren Job gut zu machen und sich gleichzeitig um die Kinder und eventuell auch um die alten Eltern zu kümmern. Die Geschlechterverhältnisse in den Familien ändern sich: Mütter sind vermehrt erwerbstätig, Väter möchten sich mehr um ihre Kinder kümmern. Dabei müssen sie Grenzmanagement leisten, also die Grenzen zwischen Job und Privatleben selber ziehen. Zudem sind die Erwartungen an Eltern an die optimale Förderung ihrer Kinder gewachsen. Nach wie vor sind es die Frauen, die vorwiegend Familienarbeit leisten, aber die Ressource „Hausfrau“ steht eben nicht mehr selbstverständlich und unbegrenzt zur Verfügung. So entstehen Engpässe. Ein Perspektivwechsel ist notwendig, Arbeitsbedingungen müssen an Familien und nicht Familien an die Erwerbsarbeit angepasst werden. Es müsste verstärkt planvolle Kooperationen zwischen Bundesarbeits- und Bundesfamilienministerium geben. Dabei sollten auch die Sorgetätigkeiten der Männer stärker gefördert werden. Nur wenn es Familienmitgliedern hinreichend möglich ist, sich umeinander zu kümmern, kann eine nächste Generation gut aufwachsen, die vorherige versorgt werden und der soziale Zusammenhalt der Gesellschaft funktionieren.

In diesem Zusammenhang ist auch das Konzept der „atmenden Lebensläufe“ entstanden. Was bedeutet das?

Nicht nur in der Phase, in der Kinder klein sind, sondern grundsätzlich müssen freie Zeiten im gesamten Erwerbsverlauf möglich sein, natürlich in Abstimmung mit Arbeitgebern. Wir benötigen ein Modell, das Unterbrechungen und Arbeitszeitreduzierungen politisch so gerahmt werden, dass hierbei auch diejenigen eingeschlossen sind, die nicht nur zeit-, sondern auch einkommensarm sind. Zeitpolitik darf nicht zum Privileg für Gutverdienende werden.

Bei einem Blick zurück: Sie waren politisch aktiv und sehr gründungsfreudig …

Ja, ich war Teil fantastischer Netzwerke und auch am Aufbau der Sektion Frauenforschung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DSG) und der Frauenakademie München e.V. (FAM) beteiligt. Zu der Gründungsgruppe der DGS in München gehörten Lerke Gravenhorst vom DJI, Ilona Ostner, Heide Göttner-Abendroth, Ilse Lenz, Barbara Riedmüller, Angelika Diezinger und andere. Dieses Jahr feiert die Sektion ihren 40. Geburtstag, sie ist die größte der DGS.

Ende Mai endet Ihre Tätigkeit am DJI. Was planen Sie?

Ich schließe allein dieses Jahr noch vier größere Publikationen ab. Und ich werde so viel wie möglich wandern, beispielsweise mit meiner Kollegin und Mitbegründerin der Frauenakademie Maria Rerrich auf den Spuren von Wilhelm Heinrich Riehl. Der konservative Volkskundler war Mitte des 19. Jahrhunderts in Mitteldeutschland unterwegs, hat in Häusern von Lehrern und Pfarrern übernachtet und seine Beobachtungen zu Familien aufgeschrieben. Sein Werk möchten wir gerne aktualisieren.

Zum Abschluss: Drei Wünsche für die Abteilung …?

Ich wünsche mir, dass Familie als entscheidende Ressource für die Gesellschaft und als unverzichtbare Lebensform eine eigenständige Forschungsperspektive am DJI bleibt. In Deutschland wird zurzeit Familienforschung tendenziell eher abgebaut. Meines Erachtens ist das ein Fehler, denn es entstehen zunehmend komplexere Familienstrukturen, die Rahmenbedingungen werden komplizierter, die Anforderungen an Familien nehmen eher zu. Dies bedarf der wissenschaftlichen Beobachtung. Der Abteilung wünsche ich beste Arbeitsbedingungen und gut finanzierte langfristige und auch internationale Forschungsprojekte. Mir ist drittens besonders wichtig, dass alle die Lust an der wissenschaftlichen Arbeit und Raum für Kreativität behalten.

Interview: Marion Horn

Foto Karin Jurczyk: David Ausserhofer

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Marion Horn
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