Zu Hause im Heim

Das Verhältnis zwischen pädagogischen Fachkräften und jungen Menschen in Heimen oder Wohngruppen unterscheidet sich klar von Eltern-Kind-Beziehungen.

Von Eric van Santen

Ein kleiner Teil der Kinder und Jugendlichen wächst zumindest zeitweise nicht in einer Familie auf. Sie leben in Heimen oder in anderen betreuten Wohngruppen. Auch hier übernehmen einzelne Personen Verantwortung für die Kinder, allerdings nicht in privaten, familialen Settings wie in einer Pflegefamilie, sondern auf beruflicher Basis. Der Staat unterstützt die Eltern damit bei der Erfüllung ihrer erzieherischen Pflichten.

Laut Statistischem Bundesamt war bei 26 Prozent der am Stichtag 31.12.2015 vorhandenen Unterbringungen im Heim den Eltern teilweise oder vollständig die elterliche Sorge entzogen. In diesen Fällen sagt der Staat im Grunde: Andere können das besser! Dieses staatliche Handeln muss sich an einer guten Elternschaft messen lassen. Dennoch fehlt bis heute eine systematische Auseinandersetzung in der Kinder- und Jugendhilfe darüber, was dies eigentlich konkret für das fachliche Handeln bedeutet.

Fest steht: Ob ein Kind bei seinen leiblichen Eltern oder im Heim aufwächst, macht einen großen Unterschied. Dies verdeutlicht allein der Zeitpunkt des Endes von Heimunterbringungen. Dem Statistischen Bundesamt zufolge verlassen drei Viertel der Jugendlichen das Heim, sobald sie die Volljährigkeit erreicht haben. Junge Menschen, die bei den Eltern aufwachsen, bestimmen dagegen in der Regel selbst, wann sie sich bereit fühlen auszuziehen. Sie müssen keine Hilfsbedürftigkeit bzw.
-losigkeit vorweisen, um zu Hause bleiben zu können.

Der Familiensoziologie Karl Lenz weist darauf hin, dass auch nicht verwandtschaftliche Beziehungen familiale Funktionen wie Nähe, Anerkennung, Verantwortungsübernahme, Zuneigung, Verbundenheit, Schutz, Sicherheit, Vertrauen und Verlässlichkeit gewährleisten können. Nicht nur in Adoptiv- oder Pflegefamilien, sondern auch in den stationären Angeboten können Beziehungen zwischen Fachkräften und den betreuten jungen Menschen familienähnlich werden. Das zeigen Untersuchungen des schottischen Soziologen Ian McIntosh und dessen Kollegen. Ein Teil der Fachkräfte versucht, dieses Ideal – oder zumindest Elemente davon – im Heim aktiv zu verwirklichen. Etliche junge Menschen sehnen sich auch danach.

Das Zugehörigkeitsgefühl der Jugendlichen ist sehr bedeutsam

Mit den Begriffen Familie und Zuhause wird oft sehr Ähnliches verbunden. Eine Familie, in der man sich nicht zu Hause, nicht zugehörig fühlt, erfüllt nicht die Funktion einer Familie. Bei jungen Menschen in Heimen und den dort tätigen Fachkräften ist die Situation allerdings differenzierter zu betrachten.

Für die Jugendlichen kann das Heim zum Zuhause werden, während die Fachkräfte lediglich eine berufliche Aufgabe erfüllen. In der Regel sind sie nicht im Heim zu Hause, sondern haben andere Familienzugehörigkeiten. Ebenso wie die Jugendlichen können sie aber ein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln, sich mit dem Heim identifizieren.

Dieses Zugehörigkeitsgefühl von jungen Heimbewohnern und ihren Fachkräften erweist sich empirisch als sehr bedeutsam. Es steht in einem deutlichen positiven Zusammenhang mit Handlungsbefähigungen, Wohlbefinden und Sozialverhalten der Jugendlichen. Das trifft auf die Heimerziehung ebenso zu wie auf die Vollzeitpflege. Dies zeigen Untersuchungen der Diplom-Psychologin Renate Höfer und ihrer Kollegen zu SOS-Kinderdörfern aus dem Jahr 2017 sowie die Ergebnisse des Projekts Pflegekinderhilfe des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht (DIJuF) und des Deutschen Jugendinstituts (DJI).

Vor diesem Hintergrund muss die Herstellung von Zugehörigkeit bei den jungen Menschen in Heimen eines der wichtigsten fachlichen Ziele sein. Zugehörigkeit kann zum Beispiel gefördert werden, indem Fachkräfte jungen Menschen vertrauen, sie ernst nehmen, sie in ihrer Besonderheit anerkennen, aktiv Zugehörigkeit herstellen und das Heim als einen normalen, akzeptierten Ort des Aufwachsens verstehen und dies den jungen Menschen auch vermitteln.

Weitere Analysen zum Thema gibt es in der Ausgabe 4/2017 der DJI Impulse "Mehr als Vater, Mutter, Kind. Neben den leiblichen Eltern kümmern sich immer häufiger soziale Eltern um den Nachwuchs". Download (PDF)

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