Soziale Elternschaft gestalten
Die Eltern-Kind-Beziehungen in komplexen Familienstrukturen sind stabiler als gemeinhin angenommen, obwohl sie durch viele Unsicherheiten belastet werden. Veränderte Anforderungen an Elternschaft aus psychologischer Sicht
Von Sabine Walper und Ulrike Lux
Seit jeher haben soziale Eltern die Versorgung der Kinder übernommen, wenn ein oder beide Elternteile verstarben oder aus anderen Gründen ausfielen. Sie taten dies in der Vergangenheit vor allem als neue Partnerinnen und Partner an der Seite eines verwitweten Elternteils oder als Patinnen und Paten bzw. Adoptiveltern eines Waisenkindes.

Obwohl heute aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung nur wenige Kinder ihre Eltern durch deren Tod verlieren, haben Formen sozialer Elternschaft nicht an Bedeutung verloren. Im Gegenteil: Neben den „traditionellen“ Formen sozialer Elternschaft in Stief-, Pflege- und Adoptivfamilien sind durch die Reproduktionsmedizin auch neue Formen fragmentierter Elternschaft entstanden, bei der biologisch-genetische, rechtliche und soziale Elternschaft auseinanderfallen (Walper u.a. 2016).
Anders als in der Vergangenheit treten heute soziale Eltern seltener an die Stelle eines verstorbenen oder fehlenden leiblichen Elternteils, sondern neben den leiblichen Elternteil, der gleichfalls mehr oder minder intensiv in das Leben der Kinder eingebunden sein kann. Damit stehen viele dieser Familien vor der Herausforderung, die praktische Präsenz und die Zusammenarbeit unterschiedlicher Elternteile zu vereinbaren.
Stieffamilien entstehen, wenn ein leiblicher Elternteil eine neue Partnerschaft eingeht und der neue Partner oder die neue Partnerin durch das Zusammenleben mit den Kindern im weitesten Sinne die Funktion eines sozialen Elternteils übernimmt.
Diese Aufgabe ist durchaus anspruchsvoll, da Stiefeltern nicht unbedingt darauf bauen können, von den Kindern akzeptiert zu werden. Bei der Ausgestaltung ihrer Rolle können sie auch nicht auf klare soziale Skripte zurückgreifen. Und gesellschaftlich sind sie eher mit negativen Stereotypen als mit sozialer Anerkennung konfrontiert – vielfach Relikte aus jener Zeit, als die Gründung einer Stieffamilie vor allem aus ökonomischen und sozialen Versorgungszwängen resultierte.
Demgegenüber können heute bei der Partnerwahl und der Entscheidung über das Zusammenziehen kindbezogene Überlegungen stärker in die Waagschale fallen. Nicht zuletzt sind Stieffamilien, die heute überwiegend nach einer Trennung der Eltern entstehen, meist „elternreiche“ Familien, bei denen der neue Partner nicht als Ersatz für einen fehlenden leiblichen Elternteil fungiert, sondern neben diesen tritt.
Die Anforderungen an die Kooperation der Eltern in der Erziehung – das sogenannte Co-Parenting (Entleitner-Phleps 2017) – werden dadurch komplexer. Wenngleich es naheliegen mag, dass damit eine Konkurrenz zwischen leiblichem und Stiefelternteil begünstigt wird, sprechen die Befunde größerer Repräsentativbefragungen doch nicht dafür, weder aus Sicht der Eltern noch aus der der Kinder (Pryor 2008). Weit überwiegend haben Trennungskinder eine gute Beziehung sowohl zum außerhalb lebenden leiblichen Elternteil als auch zum neuen Partner des hauptbetreuenden Elternteils. Und die Beziehung zum Stiefelternteil ist für Kinder keineswegs weniger bedeutsam als die Beziehung zum getrennt lebenden Elternteil.
Allerdings ist der Aufbau einer tragfähigen Beziehung zwischen Stiefelternteil und Stiefkind anforderungsreich und braucht Zeit, da Vorbehalte und Misstrauen der Kinder einfühlsam überwunden werden müssen. Die vermittelnde Unterstützung des leiblichen Elternteils, der seine neue Partnerin oder seinen neuen Partner ins Familiensystem gebracht hat, ist hierbei von entscheidender Bedeutung (Entleitner-Phleps 2017).
Stärker als bei Stieffamilien besteht bei der Inpflegenahme eines Kindes eine strukturelle Konflikt- und Konkurrenzsituation zwischen den leiblichen Eltern (Herkunftsfamilie) und den sozialen Eltern (Pflegefamilie). Die Unterbringung eines Kindes in einer Pflegefamilie oder im Heim ist für die leiblichen Eltern selten die gewünschte Lösung. Sie folgt meist auf „länger andauernde Unterversorgungslagen und biografische Deprivationsgeschichten“ (Kindler u.a. 2011, S. 270).
Entsprechend waren Pflegekinder vielfach potenziell traumatisierenden Belastungen in der Herkunftsfamilie ausgesetzt (Dozier/Rutter 2016) und erleben im Vergleich zu anderen Kindern und Jugendlichen in Deutschland deutlich häufiger Einschränkungen in ihrer psychischen Gesundheit (Kindler u.a. 2011).
Dabei sind Pflegeverhältnisse selten kurzfristig, sondern dauern durchschnittlich 3,6 Jahre (Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen 2016). Ein längerer Aufenthalt in der Pflegefamilie
verweist nicht nur auf das Fortbestehen von Problemen in der Herkunftsfamilie, sondern kann auch eine Chance für die Kinder sein, bestehende psychische Belastungen im Laufe der Zeit abzubauen (Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen 2016).
Dies ist durchaus herausfordernd für Pflegeeltern, da die Belastungen der Kinder vielfach ein zuwendungsvolles Elternverhalten erschweren und die Pflegeeltern gleichzeitig immer wieder mit den Grenzen und Unwägbarkeiten ihrer Rolle konfrontiert sind: Da das Sorgerecht zumindest in Teilen meist bei den leiblichen Eltern verbleibt, sind die Entscheidungsspielräume von Pflegeeltern begrenzt und Verständigungsprozesse zwischen Herkunfts- und Pflegefamilie erforderlich.
Zudem ist der Verbleib der Kinder in der Pflegefamilie vielfach selbst dann ungewiss, wenn eine Rückführung in die Herkunftsfamilie extrem unwahrscheinlich bzw. de facto ausgeschlossen ist (Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen 2016). Diese Unsicherheiten können die Pflegeeltern-Kind -Beziehung belasten. Gelingt jedoch der Aufbau einer sicheren, stabilen Bindungsbeziehung in der Pflegefamilie, können sich diese Kinder trotz ihrer vielfältig nachteiligen Erfahrungen langfristig meist positiv entwickeln (Dozier/Rutter 2016).
Anders als bei einer Vollzeitpflege werden durch eine Adoption die Abstammungsverhältnisse neu geregelt, und die rechtliche Elternschaft geht auf die Adoptiveltern über. Adoptionen werden meist in sehr jungem Alter vermittelt, sodass biografische Belastungen der Kinder oft enger umgrenzt sind als bei Pflegefamilien.
Adoptivkinder haben häufig keine Erinnerung an ihre leiblichen Eltern. Sofern die fehlende genetische Abstammung aufgrund des unterschiedlichen Aussehens nicht offensichtlich ist, bestünde in den Adoptivfamilien somit die Möglichkeit, die biologische Abstammung der Kinder geheim zu halten. Allerdings hat sich mittlerweile auf breiter Basis das Bewusstsein durchgesetzt, dass junge Menschen ein Recht auf Kenntnis ihrer Abstammung haben und dass eine ungeplante spätere Aufdeckung der fehlenden biologischen Abstammung zu großen Identitätsproblemen beitragen
kann (Walper/Wendt 2011).
Für Adoptivkinder stellt es durchaus eine Herausforderung dar, ihr Adoptiertsein in das Selbstbild zu integrieren (Walper u.a. 2016). Gelingt diese Integration, so ist dies mit positiven Gefühlen gegenüber den Adoptiv- und den Herkunftseltern verbunden (Colaner/Soliz 2015) und trägt zu mehr psychischem Wohlbefinden und einem höheren Selbstwertgefühl bei (Basow u.a. 2008).
Der direkte Kontakt zu den Eltern ist jedoch keine wesentliche
Voraussetzung für diese Integrationsleistung und eine positive Identitätsentwicklung. Entscheidender ist die Offenheit der Adoptiveltern für Fragen ihrer Kinder und die unterstützende Haltung gegenüber den Orientierungsversuchen der Heranwachsenden (Colaner/Soliz 2015; Walper u.a. 2016).
Während Adoptionen rückläufig sind, gewinnen Keimzellen- und Embryonenspende sowie Leihmutterschaft für ungewollt kinderlose Paare an Bedeutung. In Deutschland sind bislang nur die Samenspende und unter Einschränkungen die Embryonenspende erlaubt. Deutsche Paare nutzen aber auch Optionen im Ausland, um ihren Kinderwunsch zu erfüllen.
Trotz der Skepsis im Hinblick auf die psychosozialen Auswirkungen einer Keimzellen- oder Embryonenspende stehen diese Familien in ihrem Erziehungsverhalten und ihren Familienbeziehungen nicht hinter Kernfamilien zurück (Walper u.a. 2016). Entsprechende Vergleiche erbrachten mehrheitlich keine Unterschiede. Auch die kindliche Entwicklung scheint in Familien mit Keimzellenspende nicht beeinträchtigt zu sein (Golombok/Tasker 2015).
Von besonderem Interesse ist, ob und wann Eltern ihre Kinder über Besonderheiten ihrer Abstammung informieren. Tatsächlich scheinen nur manche Eltern – im Durchschnitt weniger als jedes dritte Elternpaar – ihre Kinder über die besonderen Umstände ihrer Zeugung per Keimzellenspende aufzuklären (Golombok/Tasker 2015).
Deren Befürchtungen, die Kinder dadurch unnötig zu verunsichern, sind laut bisherigen Studien jedoch eher unberechtigt: Kinder, die frühzeitig aufgeklärt werden, reagieren überwiegend neutral oder mit Interesse auf diese Informationen. Sie berichten über positive Familienbeziehungen, während eine späte oder gar eine ungewollte Aufklärung zumeist mit einem geringeren Wohlbefinden und weniger positiven Eltern-Kind-Beziehungen verbunden war (Ilioi u.a. 2017; Walper u.a. 2016).
Die genetisch-biologische Abstammung bildet seit jeher das Fundament familiärer Beziehungen. Formen ausschließlich sozialer, nicht leiblicher Elternschaft sind nicht neu, aber sie werden heute stärker akzeptiert und unverdeckt gelebt. Dies gilt nicht nur für Stieffamilien, auch die Herausforderungen und Chancen elternreicher Familien werden inzwischen offener diskutiert.
Dementsprechend sollten die Möglichkeiten und Erträge der Reproduktionsmedizin seitens ihrer Nutzerinnen und Nutzer ebenso unbefangen gewürdigt werden, um den Kindern die Identitätsentwicklung zu erleichtern. Angesichts des gesellschaftlichen Wandels mit wachsender Komplexität von Familienstrukturen und veränderten Bedingungen von Elternschaft sollte die soziale Elternschaft einen guten Rahmen erhalten, der dort, wo es sinnvoll ist, Leistungen anerkennt und Perspektiven sichert.
Ausschließlich die genetisch-biologische Elternschaft zu schützen, birgt das Risiko unbegründeter Ungleichgewichte, die den Aufgaben und Leistungen gelebter Elternschaft jenseits biologischer Abstammungsverhältnisse nicht gerecht werden. Insofern wird auch im Familienrecht diskutiert, ob und wie neue Möglichkeiten geschaffen werden sollten, um die Rolle von Stiefeltern und Pflegeeltern juristisch zu stärken. Die Rechte und Interessen von leiblichen und sozialen Eltern und nicht zuletzt den Kindern in eine gute Balance zu bringen, ist allerdings keine leichte Aufgabe.
Basow, Susan u.a. (2008): Identity development and psychological wellbeing in Korean-born adoptees in the US. In: American Journal of Orthopsychiatry, 78. Jg., H. 4, S. 473–480
Colaner, Colleen / Soliz, Jordan (2015): A communication-based
approach to adoptive identity theoretical and empirical support. In: Communication Research, S. 1–27
Dozier, Mary / Rutter, Michael (2016): Changes to the development of attachment relationships faced by young children in foster and adoptive care. In: Cassidy, Jude / Shaver, Phillip R. (Hrsg.): Handbook of Attachment. Theory, Research and Clinical Applications. New York, S. 696–710
Entleitner-Phleps, Christine (2017): Zusammenzug und familiales Zusammenleben von Stieffamilien. Wiesbaden
Golombok, Susan / Tasker, Fiona (2015): Socioemotional development in changing families. In: Lerner, Richard M. / Lamb, Michael E. (Hrsg.): Handbook of Child Psychology and Developmental Science. Bd. 3: Socioemotional Processes. New York, S. 419–463
Ilioi, Elena u.a. (2017): The role of age of disclosure of biological origins in the psychological wellbeing of adolescents conceived by reproductive donation: a longitudinal study from age 1 to age 14. In: Journal of child psychology and psychiatry, and allied discipline, 58. Jg., H. 3, S. 315–324
Kindler, Heinz u.a. (2011): Handbuch Pflegekinderhilfe. München
Pryor, Jan (2008): Children‘s relationships with nonresident parents.
In Pryor, Jan (Hrsg.): International handbook of stepfamilies: Policy and practice in legal, research and clinical spheres. New York, S. 345–368
Walper, Sabine u.a. (2016): Was kann der Staat? Mutterschaft aus Sicht der Familien, Kinder- und Jugendforschung. In: Röthel, Anne / Heiderhoff, Bettina (Hrsg.): Regelungsaufgabe Mutterstellung: Was kann, was darf, was will der Staat? Schriften zum deutschen und ausländischen Familien- und Erbrecht, Bd. 14. Frankfurt am Main, S. 33–64
Walper, Sabine / Wendt, Eva-Verena (2011): Die Bedeutung der Abstammung für die Identitätsfindung und Persönlichkeitsentwicklung in der Adoleszenz: Adoption, Samenspende und frühe Vaterabwesenheit nach Trennung der Eltern. In: Schwab, Dieter / Vaskovics, Laszlo A. (Hrsg.): Sonderheft der Zeitschrift für Familienforschung, S. 211–237
Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen (Hrsg.) (2016): Pflegefamilien als soziale Familien, ihre rechtliche Anerkennung und aktuelle Herausforderungen. Berlin

Weitere Analysen zum Thema gibt es in der Ausgabe 4/2017 der DJI Impulse „Mehr als Vater, Mutter, Kind. Neben den leiblichen Eltern kümmern sich immer häuffiger soziale Eltern um den Nachwuchs“. Download (PDF)