Auslaufmodell Adoption?
Immer weniger Paare in Deutschland nehmen fremde Kinder an. Wie sich diese Entwicklung begründen lässt und warum Reformen überfällig sind.
Von Sandra Fendrich, Paul Bränzel und Fabienne Hornfeck
Eine Adoption soll einem Kind, das dauerhaft nicht bei seinen leiblichen Eltern leben kann, das Aufwachsen in einer stabilen und rechtlich abgesicherten familiären Struktur in Form einer sozialen Elternschaft ermöglichen (Bovenschen u.a. 2017; Bach 2017). In den vergangenen zehn Jahren wurden dem Statistischen Bundesamt zufolge in Deutschland knapp 45.000 Kinder und Jugendliche adoptiert.
Solche Kindesannahmen sind relativ selten – verglichen mit Fallzahlen zu anderen Formen der Unterbringung von Minderjährigen außerhalb des Elternhauses. Allein im Jahr 2015 wurden beispielsweise etwa 96.000 Heranwachsende in ein Heim aufgenommen. Dennoch erfährt die Adoption in der politischen, fachlichen und medialen Diskussion große Aufmerksamkeit. Eine zentrale Ursache dafür ist, dass eine Adoption mit weitreichenden und in der Regel unwiderruflichen rechtlichen Konsequenzen verbunden ist.
Es wird zwischen verschiedenen Formen der Adoption unterschieden: Varianten ergeben sich zum einen hinsichtlich des Verwandtschaftsverhältnisses zwischen Kind und Adoptiveltern. Bei den sogenannten Fremdadoptionen werden Kinder von Nichtverwandten adoptiert, bei Stiefkindadoptionen nimmt ein nicht verwandter Elternteil das biologische Kind seiner Partnerin bzw. seines Partners an. Unter Verwandtenadoptionen versteht man die Kindesannahme durch Verwandte in gerader Linie (Großeltern) oder der Seitenlinie bis zum dritten Grad (Geschwister, Tante/Onkel). Zum anderen wird zwischen In- und Auslandsadoptionen differenziert. Im Bereich der Fremdadoptionen aus dem In- und Ausland ist seit Jahren ein Rückgang der Vermittlungszahlen zu beobachten. Aber ist die Adoption deshalb ein Auslaufmodell?
Nach einer Datenauswertung des Forschungsverbunds DJI/TU Dortmund gab es im Jahr 2016 bundesweit 3.976 Adoptionen und damit 4 Prozent mehr als im Vorjahr. Zuvor ist die Zahl der Kindesannahmen tendenziell gesunken.
Betrachtet man die verschiedenen Adoptionsformen, sind bei der klassischen Form der Kindesannahme, der Fremdadoption durch Nichtverwandte, in den letzten zehn Jahren tendenziell immer weniger Fälle gezählt worden (-22 Prozent). Im Jahr 2016 waren es noch 1.175 Fremdadoptionen.
Gleichzeitig wird diese Form der Adoption, bei der in erster Linie Kinder unter drei Jahren angenommen werden, seit Jahren durch die Zahl an Stiefkindadoptionen überlagert. Diese macht mittlerweile einen Anteil von 62 Prozent aus und damit den Großteil der Adoptionen. Auch der zuletzt beobachtbare Anstieg der Adoptionszahlen geht wesentlich auf einen Zuwachs an Stiefkindadoptionen zurück (+7 Prozent zwischen 2015 und 2016).
Mehr noch als Fremdadoptionen sind Auslandsadoptionen zurückgegangen. Im Vergleich zum Jahr 2006 ist die Zahl der Annahmen von Kindern, die zur Adoption aus dem Ausland nach Deutschland gebracht wurden, von 575 auf aktuell 257 zurückgegangen (-55 Prozent), sieht man von dem zwischenzeitlichen Anstieg auf etwa 700 Fälle im Jahr 2007 ab. Auch die Bundeszentralstelle für Auslandsadoption berichtet von einem Rückgang internationaler Adoptionsbeschlüsse in Deutschland (Bovenschen u.a. 2017).
Da die Dokumentation der Adoptionszahlen im internationalen Kontext unterschiedlich ist, kann beispielhaft die bevölkerungsrelativierte Zahl der Inlandsadoptionen in Deutschland mit Frankreich, Norwegen und den USA verglichen werden (Bovenschen u.a. 2017). Nach den Erkenntnissen des Expertise- und Forschungszentrums Adoption (EFZA) am DJI werden in Frankreich und vor allem in Norwegen weniger Adoptionen als in Deutschland registriert, die Zahl in den USA ist dagegen mehr als doppelt so hoch, bezogen auf die Minderjährigen in der Bevölkerung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in den USA ein großer Anteil der Adoptionen aus Pflegeverhältnissen heraus erfolgt.
Empirische Studien, die sich mit der Frage nach den Ursachen für die sinkenden Adoptionszahlen auseinandersetzen, existieren bislang nicht. Es kann jedoch von einem Zusammenspiel verschiedener Faktoren ausgegangen werden, die die Veränderungen bedingen.
Einerseits hat sich ein gesellschaftlicher Wandel vollzogen, sodass sich heute viele Möglichkeiten bieten, mit Kindern zusammenzuleben. Andererseits ermöglichen die Einführung diverser Verhütungsmethoden sowie die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, den Zeitpunkt der Familiengründung zu kontrollieren und der individuellen Lebensplanung anzupassen. Dadurch verringert sich die Zahl von Kindern aus unerwünschten Schwangerschaften, welche andernfalls möglicherweise zur Adoption freigegeben worden wären.
Ebenso hat sich durch das immense Angebot an familienpolitischen Leistungen (beispielsweise Eltern-, Mutterschafts- und Kindergeld, rechtlicher Anspruch auf Kinderbetreuung sowie Angebote der Ganztagsbetreuung) der Druck verringert, ein Kind aufgrund mangelnder finanzieller Sicherung zur Adoption freizugeben.
Parallel zu dieser Entwicklung kann in den letzten Jahren auch ein Rückgang der Bewerberzahlen beobachtet werden. Durch die Fortschritte in der Reproduktionsmedizin bieten sich zunehmend mehr Alternativen zur Realisierung eines Kinderwunsches. Unfreiwillig kinderlose Paare nehmen diese in den letzten Jahrzehnten vermehrt in Anspruch (Deutsches IVF-Register 2015).
Zudem wurden verschiedene Formen der in Deutschland verbotenen Leihmutterschaft, Eizellen- und Embryonenspende in anderen Ländern legalisiert und erweitern somit die Handlungsmöglichkeiten von Paaren, ein leibliches Kind zu bekommen. Wie die Studien des Expertise- und Forschungszentrums Adoption belegen, ist es vor allem die unfreiwillige Kinderlosigkeit, die Paare zur Adoption eines Kindes bewegt (Bovenschen u.a. 2017).
Neben gesellschaftlichen Veränderungen und medizinischen Errungenschaften nehmen aber auch die jeweilige Ausgestaltung des Adoptionswesens sowie (inter)nationale Rahmenbedingungen Einfluss auf die Zahl der Adoptionen. In Deutschland werden im Vergleich zum angloamerikanischen Raum beispielsweise bedeutend weniger Kinder aus bestehenden Pflegeverhältnissen adoptiert (im Jahr 2015 waren dies lediglich knapp 2 Prozent aller beendeten Vollzeitpflegeverhältnisse; Statistisches Bundesamt 2017).
Gleichzeitig kehren in der Regel nur wenige Pflegekinder im weiteren Verlauf in die Herkunftsfamilie zurück (Kindler 2011), wodurch sogenannte Dauerpflegeverhältnisse entstehen. Die am häufigsten genannten Gründe in der Fachwelt für die geringe Quote an adoptierten Pflegekindern sind fehlende oder unzureichend durchgeführte Prüfungen einer möglichen Adoption im Rahmen des Hilfeplanverfahrens (§ 36 Abs. 1 S. 2 SGB VIII), eine mangelnde Adoptionsbereitschaft der Pflegeeltern (etwa aufgrund des Verlusts des Pflegegelds) und eine fehlende Bereitschaft der Herkunftseltern, in die Adoption ihres fremduntergebrachten Kindes einzuwilligen (Bovenschen u.a. 2017).
Die (weltweit) sinkende Zahl an Auslandsadoptionen wird in der Fachwelt hingegen vor allem auf die Einführung des Haager Adoptionsübereinkommens (HAÜ) zurückgeführt (Ballard 2015), welches inzwischen von 98 Staaten ratifiziert wurde. Kernpunkt des Übereinkommens ist das sogenannte Subsidiaritätsprinzip, welches die Vertragsstaaten dazu verpflichtet, für Kinder in Not zunächst adäquate Unterbringungsmöglichkeiten im Inland zu suchen und die Adoption ins Ausland nachrangig zu behandeln. Zudem belegen verschiedene Studien (Bovenschen u.a. 2017; Selman 2015), dass international adoptierbare Kinder tendenziell älter sind und häufiger besondere Fürsorgebedürfnisse aufweisen (special needs), was die prospektiven Adoptiveltern vor besondere Herausforderungen stellt.
Die jährliche Zahl der in Deutschland vollzogenen Adoptionen ist im internationalen Vergleich eher gering. Sieht man von den Stiefkindadoptionen ab, zeichnet sich ein weiterhin sinkender Trend ab. Gleichzeitig nimmt auch die Zahl der Adoptionsbewerbungen seit Jahren kontinuierlich ab.
Solange dies mit familienfreundlichen gesellschaftlichen Entwicklungen, der Einführung internationaler Schutzabkommen und einer stärkeren Berücksichtigung der individuellen Fürsorgebedürfnisse der zu adoptierenden Kinder zu erklären ist, stellt dies keinen Grund zur Sorge dar. Denn fest steht: Die Adoption ist kein Auslaufmodell. Sie ist und bleibt für eine bedeutende Anzahl von Kindern, die nicht bei ihren leiblichen Eltern leben können, eine Möglichkeit, in stabilen und rechtlich abgesicherten familiären Strukturen aufwachsen zu können.
Nur durch die Adoption kann ein Eltern-Kind-Verhältnis rechtlich neu begründet werden. In dieser Funktion ist die Adoption einzigartig. Um diese durchaus wichtige Option auch weiterhin sicherzustellen, muss das deutsche Adoptionswesen und Adoptionsrecht an die sich verändernden Rahmenbedingungen angepasst werden.
So befindet sich eine Vielzahl von Kindern über Jahre hinweg in der rechtlich unsicheren Situation eines Dauerpflegeverhältnisses, ohne eine realistische Chance auf eine Rückführung in ihre Herkunftsfamilie. Eltern, die ein Kind zur Adoption freigegeben haben, erfahren bislang zu wenig Unterstützung und Anerkennung für diese verantwortungsbewusste Entscheidung und werden mit der Bewältigung des Verlusts und der Trauer noch zu oft alleingelassen. Und letztlich muss auch die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare Eingang in die Adoptionsvermittlungspraxis finden (Bovenschen u.a. 2017).
Diese und viele weitere Gründe machen sowohl eine weitere wissenschaftliche Betrachtung als auch eine Weiterentwicklung des Adoptionswesens und Adoptionsrechts auf politischer Ebene unumgänglich.
Bach, Rolf (2017): Adoption (Annahme als Kind). In: Kreft, Dieter / Mielenz, Ingrid (Hrsg.): Wörterbuch Soziale Arbeit. Aufgaben, Praxisfelder, Begriffe und Methoden der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Weinheim/Basel, S.46–50
Ballard, Robert L. u.a. (Hrsg.) (2015): The intercountry adoption debate: Dialogues across disciplines. Newcastle upon Tyne
Bovenschen, Ina u.a. (2017): Dossier Adoptionen in Deutschland. Bestandsaufnahme des Expertise- und Forschungszentrums Adoption.Kurzfassung. München
Bovenschen, Ina u.a. (2017): Expertise- und Forschungszentrum Adoption: Studienbefunde Kompakt. München
Bovenschen, Ina u.a. (2017): Empfehlungen des Expertise- und Forschungszentrums Adoption zur Weiterentwicklung des deutschen Adoptionswesens und zu Reformen des deutschen Adoptionsrechts. München
Deutsches IVF-Register (DIR) (Hrsg.) (2015): Jahrbuch 2014. Journal für Reproduktionsmedizin und Endokrinologie, 12. Jg, H.1
Kindler, Heinz u.a. (2011): Rückführung und Verselbstständigung. In: Kindler,Hheinz u.a. (Hrsg.): Handbuch Pflegekinderhilfe. München, S.614–665
Selman, Peter (2015). Twenty years of the Hague Convention: a statistical review. Newcastle University
Statistisches Bundesamt (2017): Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe für seelisch behinderte junge Menschen, Hilfe für junge Volljährige – Vollzeitpflege. Wiesbaden
Weitere Analysen zum Thema gibt es in der Ausgabe 4/2017 der DJI Impulse „Mehr als Vater, Mutter, Kind. Neben den leiblichen Eltern kümmern sich immer häufiger soziale Eltern um den Nachwuchs“. Download (PDF)