Jugendliche und junge Erwachsene leiden psychisch weiterhin stark
Die Situation hat sich im Laufe der Pandemie zwar etwas gebessert. Dennoch bleibt das psychische Wohlbefinden in dieser Altersgruppe massiv beeinträchtigt – und das birgt neue Risiken.
Von Philipp Alt[1], Julia Reim[2] und Sabine Walper[3]
Die Covid-19-Pandemie hat das Leben der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland entscheidend verändert. Die mentale Konstitution der Adoleszenten ist hierbei besonders beeinträchtigt. So stieg das Risiko für psychische Auffälligkeiten während der ersten Welle im Frühjahr 2020 von 18 auf 31 Prozent (Walper 2021). In einer Literaturübersicht (Rottach u.a. 2021) zeigt sich, dass das psychische Wohlbefinden Jugendlicher und junger Erwachsener in der ersten Welle der Pandemie, zum Beispiel hinsichtlich Depressionen, Angstzuständen und posttraumatischen Belastungsstörungen, im Vergleich zu anderen Altersgruppen weltweit in besonderem Maße durch die Pandemie beeinträchtigt wurde.
Knapp ein Viertel der befragten Jugendlichen des deutschen Beziehungs- und Familienpanels pairfam[4] gab in den ersten Monaten der Pandemie an, sich persönlich stark oder eher stark durch die Pandemie belastet zu fühlen (Walper u.a. 2021). Längsschnittliche Ergebnisse des Panels zeigen, dass Jugendliche einen Anstieg von Einsamkeit und eine deutliche Verringerung von Aktivität und Tatkraft während der ersten Monate der Pandemie im Vergleich zum Vorjahr wahrnahmen (Reim u.a. 2022). Gleichzeitig veränderte sich das Familienklima zu Hause: Viele Jugendliche erlebten vermehrt eine stressige und genervte Stimmung oder berichteten von einem ängstlicheren und sorgenvolleren Klima, während andere die Stimmung sogar als fröhlicher und gemütlicher empfanden (Walper u.a. 2021). Negative Veränderungen im Wohlbefinden ließen sich dabei mit negativen Veränderungen im Familienklima in Verbindung bringen (Reim u.a. 2022).
Die Zufriedenheit Jugendlicher und junger Erwachsener nahm nach Daten des Corona-Add-ons des Surveys »Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten« (AID:A)[5] des Deutschen Jugendinstituts (DJI) im Jahr 2020 im Vergleich zu vor der Pandemie in allen Lebensbereichen ab (zum Beispiel bezüglich Freundeskreis, Autonomieerleben; Berngruber/ Gaupp 2021a). Als aktuell größte Herausforderung wurde häufig der Bereich Schule, Studium und Beruf genannt.
In der ersten Welle zeigten sich somit heterogene Reaktionen der Jugendlichen auf pandemiebedingte Einschränkungen. Aktuell fehlt es jedoch noch an Studien, die eine Entwicklung dieser Problematik über den Verlauf der Pandemie nachzeichnen, da sich viele Ergebnisse nur auf die erste Welle beziehen. Im Laufe der Pandemie könnte sich die Lage allerdings zugespitzt haben oder die Jugendlichen und jungen Erwachsenen könnten (dys-)funktionale Strategien entwickelt haben, um Belastungen zu bewältigen.
Diese Entwicklungen lassen sich gut mit pairfam abbilden. Zum einen bietet das Panel Daten für den gesamten Verlauf der bisherigen Pandemie und zum anderen lässt die Stichprobe eine Differenzierung zwischen Jugendlichen (17 Jahre) und jungen Erwachsenen (18 bis 22 Jahre) zu, um unterschiedliche Entwicklungsabschnitte abzubilden.
Noch immer ist der Anteil der depressiven Jugendlichen höher als vor der Pandemie
Für die folgenden Analysen wurden querschnittliche Vergleiche erstellt, bei denen sowohl die Jugendlichen als auch die jungen Erwachsenen jeder Welle miteinander verglichen wurden. Es zeigte sich ein Anstieg von psychischen Problemen bei den Jugendlichen. Insbesondere die Zahl klinisch relevanter Depressionen stieg in der ersten Welle um mehr als das Doppelte im Vergleich zum Vorjahr.
Im Laufe der zweiten und dritten Welle sank die Zahl der klinischen Depressionen zwar um circa 40 Prozent im Vergleich zur ersten Welle, allerdings waren das fast immer noch circa 60 Prozent mehr depressive Jugendliche als im Jahr vor der Pandemie. Für die jungen Erwachsenen war der Anstieg der Depressionen noch dramatischer: Der Anteil verdreifachte sich von 8 Prozent vor der Pandemie auf 24,4 Prozent in der ersten Welle. Im Verlauf der zweiten und dritten Welle sank der Anteil zwar auf 13,7 Prozent ab, war aber im Vergleich zur vorpandemischen Erhebung immer noch deutlich erhöht.
Jugendliche und junge Erwachsene konsumieren deutlich mehr Alkohol
Erste internationale Befunde deuten darauf hin, dass es auch beim Gebrauch von Drogen wie Alkohol oder Marihuana durch die Pandemie verursachte Veränderungen gab (Romm u.a. 2021). So steigerten junge amerikanische Erwachsene sowohl ihren Alkoholgebrauch als auch den Konsum von Marihuana in der ersten Welle. Ein Anstieg des Alkoholkonsums ging dabei auch mit einem Anstieg der Depressivität einher.
Der Konsum von Alkohol und illegalen Drogen wurde in pairfam im Jahr vor der Pandemie und während der zweiten und dritten Welle erhoben. Bei den Jugendlichen nahm der Alkoholkonsum in diesem Zeitraum deutlich zu. Im Jahr vor der Pandemie gaben 3,2 Prozent von ihnen an, mehr als zweimal pro Woche Alkohol zu konsumieren. In den Pandemiewellen verdoppelte sich dieser Anteil nahezu auf 5,8 Prozent. Bei den jungen Erwachsenen kam es bezüglich dieses Konsummusters ebenfalls fast zu einer Verdoppelung von 3,7 Prozent auf 6,1 Prozent. Gleichzeitig sank der Anteil der jungen Erwachsenen, der komplett auf Alkohol verzichtete, von 18,3 Prozent vor der Pandemie auf 6,8 Prozent in der Pandemie.
Der Gebrauch illegaler Substanzen verringerte sich hingegen. So konsumierten im Jahr vor der Pandemie 23,1 Prozent der Jugendlichen einmal pro Monat oder häufiger illegale Substanzen (zum Beispiel Marihuana). In den Wellen zwei und drei reduzierte sich deren Konsum auf 5,4 Prozent, ebenso bei den jungen Erwachsenen von 14,7 Prozent vor der Pandemie auf 4,2 Prozent während der Pandemie.
Die Unterschiede zwischen den USA und Deutschland beim Konsum von Marihuana könnten in der unterschiedlichen Verfügbarkeit und Legalisierung begründet liegen. In vielen Bundesstaaten der USA ist Marihuana mittlerweile für den medizinischen Gebrauch und/oder den Freizeitgebrauch zugelassen und somit entkriminalisiert und leichter verfügbar als in Deutschland. An dieser Stelle könnte die Pandemie einen positiven Nebeneffekt gehabt haben, da der illegale Erwerb von Marihuana durch die Einschränkungen des öffentlichen Lebens erschwert wurde.
Großer Forschungsbedarf: Dysfunktionale Bewältigungsstrategien verhindern und Schutzfaktoren identifizieren
Andere Studien berichteten, dass Jugendliche und junge Erwachsene im Laufe der Pandemie ihren Alkoholkonsum gesteigert hätten, um depressive Verstimmungen zu regulieren (Romm u.a. 2021). In den pairfam-Daten zeichnete sich im Jahr vor der Pandemie weder für Jugendliche noch für junge Erwachsene ein Zusammenhang zwischen Depressionen und dem Konsum von Alkohol ab. Für die Jugendlichen zeigte sich dann auch in den Pandemiewellen keine Assoziation zwischen psychischer Belastung und Substanzgebrauch. Für junge Erwachsene allerdings ließ sich ein Zusammenhang erkennen. Diejenigen, die keine Depression hatten, konsumierten auch häufiger Alkohol als belastete junge Erwachsene. Ob es sich hierbei um einen Zusammenhang handelt, bei dem Alkohol dysfunktional eingesetzt wurde, um gestiegene depressive Belastungen kurzfristig nach unten zu regulieren, sollte in weiterführenden Untersuchungen genauer geprüft werden. Dabei sollten auch längsschnittliche Analysen den Zusammenhang zwischen psychischer Belastung und Alkoholkonsum genauer beleuchten.
Im Kontext von funktionalen Bewältigungsstrategien fällt der kognitiven Selbstregulation, zum Beispiel der Formulierung von alternativen Zielen, eine entscheidende Rolle zu. Hierbei kann man unterscheiden zwischen Menschen, denen es leichtfällt, Ziele umzuformulieren, sobald die äußeren Bedingungen das Erreichen der Ziele unmöglich machen, und Menschen, denen diese Umorientierung selbst gesetzter Ziele schwerer fällt. Die Pandemie hat die Planungen vieler Menschen durcheinandergeworfen. Doch insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene wurden Lebensläufe massiv beeinträchtigt: (Schul-) Abschlüsse mussten verschoben und Praktika abgesagt werden, und der Einstieg in den Arbeitsmarkt wurde erheblich erschwert (Berngruber/Gaupp 2021a). Unter diesen veränderten Bedingungen kann eine stark ausgeprägte Selbstregulation helfen, die psychischen Belastungen abzufedern.
Eigene Analysen mit den pairfam-Daten zeigten interessanterweise in der ersten Welle der Pandemie weder für die Jugendlichen noch für die jungen Erwachsenen eine Schutzfunktion dieser Selbstregulation in Bezug auf Depressionen. Selbst Jugendliche und junge Erwachsene mit hoher Selbstregulation hatten im ersten Jahr der Pandemie mit Depressionen zu kämpfen. In der zweiten und dritten Welle gab es allerdings hinsichtlich dieser Persönlichkeitseigenschaft wieder Unterschiede beim Ausmaß depressiver Belastungen. Jugendliche und junge Erwachsene mit hoher Selbstregulation berichteten nun seltener von klinisch relevanten Depressionen.
Diese Ergebnisse sprechen dafür, dass die erste Welle der Pandemie eine besondere Belastung für alle jungen Menschen darstellte, unabhängig von möglicherweise vorhandenen Schutzfaktoren. Dies ist auch im Einklang mit anderen Befunden, die ein Versagen klassischer Schutzfaktoren wie Extraversion bei jugendlicher Depressivität in der ersten Welle der Pandemie berichteten (Alt/Reim/ Walper 2021). Im Laufe der Pandemie könnten allerdings resilienzstärkende Anpassungsprozesse stattgefunden haben, die auch zur Reaktivierung der Schutzfaktoren führten. Die Identifikation dieser Prozesse und die Beschreibung der Bedingungen, unter denen die Schutzfaktoren ihre Wirkung (wieder) entfalten konnten, sollten im Fokus zukünftiger Arbeiten stehen. Dies würde präventive Maßnahmen für das zukünftige Pandemiegeschehen ermöglichen, um die psychische Gesundheit Jugendlicher und junger Erwachsener besser schützen zu können.
Alt, Philipp / Reim, Julia / Walper, Sabine (2021): Fall From Grace: Increased Loneliness and Depressiveness Among Extraverted Youth During the German COVID-19 Lockdown. In: Journal of Research on Adolescence, 31. Jg., H. 3, S. 678–691
Berngruber, Anne / Gaupp, Nora (2021): Lebenswelten und Erfahrungen junger Menschen in Zeiten von Corona. Ergebnisse aus dem Corona-Add-on zur AID:A-Studie. In: DREIZEHN – Zeitschrift für Jugendsozialarbeit, H. 25, S. 4–9
Loades, Maria Elizabeth u.a. (2020): Rapid Systematic Review: The Impact of Social Isolation and Loneliness on the Mental Health of Children and Adolescents in the Context of COVID-19. In: Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 59. Jg., H. 11, 1218–1239.e3
Reim, Julia u.a. (2022): The Role of Family Climate in Adolescents’ Psychological Adjustment during the COVID-19 Pandemic in Germany. Posterpräsentation am 03.03.2022 in New Orleans/Online
Romm, Katelyn F. u.a. (2021): Changes in young adult substance use during COVID-19 as a function of ACEs, depression, prior substance use and resilience. In: Substance Abuse, 43. Jg., H. 1, S. 212–221
Rottach, Andreas u.a. (2021): Literaturübersicht zur Pandemieforschung zu jungen Menschen und Youth Work außerhalb Deutschlands. In: Gaupp, Nora u.a. (Hrsg.): Jugend ermöglichen – auch unter den Bedingungen des Pandemieschutzes. München, S. 144–170
Walper, Sabine (2021): Getrübte Zukunft. Die Situation Jugendlicher in der Coronakrise. In: Die politische Meinung, 66. Jg., H. 567, S. 66–71
Walper, Sabine u.a. (2021): Die Situation Jugendlicher in der Corona-Krise. München
Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 2/2022 von DJI Impulse „Der lange Weg aus der Pandemie: Wie sich die Coronakrise auf Jugendliche auswirkt und welche Unterstützung sie benötigen“ (Download PDF[6]).