Statements der TeilnehmerInnen der 1. Tagung der Expertengruppe „Kindeswohlgefährdung“ am 14.02.2002 im DJI, München

 

In der Einladung zur ersten Expertentagung hatten wir die Aufgabenstellung der Expertengruppe und das Thema der ersten Tagung u.a. wie folgt beschrieben:

 

„Zur Unterstützung unserer Projektarbeit möchten wir eine interdisziplinäre Expertengruppe initiieren, die mit uns ca. zweimal jährlich wichtige Fragestellungen des Forschungsthemas aus unterschiedlichen professionellen Perspektiven diskutiert.

Inhaltlicher Schwerpunkt des ersten Expertentreffens ist die Erörterung und Eingrenzung des Begriffes der „Kindeswohlgefährdung“ aus verschiedenen Berufsperspektiven. Hilfreich wäre es, wenn von den geladenen TeilnehmerInnen jeweils ein knappes Statement von maximal fünf Minuten Umfang gegeben würde, in dem die eigenen beruflichen Berührungspunkte und Arbeitsansätze zu diesem Thema deutlich werden.“

 

 

Nach Überarbeitung der Wortprotokolle durch die TeilnehmerInnen der Expertentagung liegen bislang folgende Statements vor:

 

Herr Benede

Polizeipräsidium München, Kommissariat 314

Schwerpunkt verhaltensorientierte Prävention und Opferschutz, Ettstraße 2, 80333 München

 

Kriminalbeamter beim Polizeipräsidium München, Kommissariat 314

Opferschutz für den kindlichen/jugendlichen Bereich, insbesondere sexueller Missbrauch und Misshandlungen.

Prävention bei Kindern und Jugendlichen.

Verbindungsstelle Polizei und Inobhutnahmestellen.

 

Es gibt Berührungspunkte zwischen Polizei und dem ASD München. Und das nicht zu knapp. Hierzu ein Beispiel:

 

Kollegen fahren zum Einsatzort. Grund: Familienstreitigkeiten. Die eingesetzten Beamten müssen dann feststellen, dass das Wohl des Kindes gefährdet ist, wenn es weiter in der Familie bleibt. (Gewalt richtet sich gegen das Kind – aber auch Gewalt gegen die Eltern, die von Kindern und Jugendlichen ausgeht).

In solchen Fällen wird sofort Kontakt mit dem Kommissariat 314 aufgenommen. Hierbei werden den Eltern oder aber auch Kindern und Jugendlichen ein Beratungsangebot unterbreitet. In der Beratung (persönlich oder telefonisch) können die Geschädigten bzw. Opfer Informationen zum Ermittlungsverfahren, Anzeigen, Opferrechte und Vorbeugungsmaßnahmen einholen. Unterstützung erfahren sie durch Weitervermittlungen an Facheinrichtungen, Hilfe zur Selbsthilfe, Stabilisierung der Opfer und Verhinderung weiterer Gefahrensituationen.

Somit ist das Kommissariat 314 Anlaufstelle, wenn schon eine Straftat verübt worden ist. Dennoch gibt es viele Varianten, die Gefahren zu minimieren, indem man die Möglichkeiten nutzt, die im gesetzlichen Rahmen möglich sind. Man muss sich nur trauen.

Die Zusammenarbeit in diesem Bereich mit dem ASD und Stadtjugendamt München ist sehr gut. Natürlich gibt es auch hierzu noch einige Verbesserungsvorschläge um ein rasches Handeln zum Wohle des Kindes/Jugendlichen zu optimieren. Hierbei sind Polizei und der ASD, Stadtjugendamt im ständigen Austausch und Kontakt. Dies wird durch regelmäßige Treffen (round table), aber auch durch persönliche Kontaktpflege zu den einzelnen ASD-Mitarbeitern gepflegt.

Durch die Vernetzung von Justiz (Familienrichter, STA), Polizei, ASD und dem Stadtjugendamt gelingt es immer mehr, dass die verschiedenen Bereiche zusammenarbeiten, sich austauschen und somit ein optimales Ergebnis im Einzelfall erzielen.

Der ASD leistet in München hervorragende Arbeit. In den letzten Jahren ist auch spürbar, dass der ASD sich auch mal traut, die Polizei mit ins Boot zu holen und auch der einzelne Mitarbeiter/in sich trauen kann zu sagen: "Bitte unterstützen sie mich in diesem Fall, ich komme nicht mehr weiter".

Man sollte sich mal überlegen, in was für eine Gefahrensituation sich mancher ASD-Mitarbeiter/in begeben, wenn sie in eine gewalttätige Familie zur Abklärung muss.

Weiter sollte man sich auch Gedanken über den Datenschutz machen. Ist es nicht sinnvoller, dem ASD mitteilen zu können (zum Wohle des Kindes/Jugendlichen), wenn der Verursacher schon kriminalpolizeiliche in Erscheinung getreten ist oder nicht? In vielen Fällen ist der prügelnde Vater schon anderweitig mit Körperverletzungen und anderen Delikten kriminalpolizeilich in Erscheinung getreten.

Ich glaube, wenn hier der ASD mehr Hintergrundinformationen besitzen würde, könnte er anders entscheiden und zum Wohle des Kindes/Jugendlichen agieren.

In der Praxis ist es so, dass der Besuch des ASD oder Jugendamtes bei der entsprechenden Familie angekündigt wird. Jetzt wird schnell aller sauber gemacht, der Vater, der sonst im Unterhemd vor dem Fernseher sitzt, trägt jetzt sogar ein Hemd und alles scheint zeitweilig in Ordnung zu sein. Es entsteht der Eindruck, dass es nur eine kurz andauernde Phase in Problemen der Erziehung ist und somit eine ambulante Erziehungsberatungsstelle reicht, um das Problem aus der Welt zu schaffen.

 

 

Herr Heinz-Hermann Werner

Stadt Mannheim - Jugendamt

K 1, 7 – 13, 68159 Mannheim

 

Jurist, Leiter des Stadtjugendamtes Mannheim

Schwerpunkt u.a. Leitung der Arbeitsgruppe beim Deutschen Städtetag mit dem Thema, strafrechtliche Relevanz sozialarbeiterischen Handelns und welche Standards können zum Schutz der MitarbeiterInnen entwickelt werden

 

Eingangs will ich versuchen, Ihnen eine Entwicklung bei mir selbst bezüglich dieses Projektes zu vermitteln. Ursprünglich bin ich  - sehr vereinfacht ausgedrückt - von folgendem ausgegangen: es gab eine Reihe von Projekten, die sich mit den Spezialdiensten im Jugendamt beschäftigt haben und immer wieder war klar, hinter dem jeweiligen Spezialdienst steckt ganz wichtig der ASD, dessen Wertigkeit jedoch dabei nicht sehr deutlich und konkret wurde. Und deswegen, als dann plötzlich der ASD ins Visier dieses Projektes  genommen wurde, hatte ich gedacht, jetzt geht es um eine Qualitätsbestimmung im ASD und das ist außerordentlich wichtig. So etwas muss in der Tat beim Kernstück der Jugend-, hier der Erziehungshilfe geleistet werden, weil auch in anderen Bereichen, wenn ich z.B. an KGST denke, immer die Spezialdienste im Vordergrund standen und der ASD zwar als das Kernstück bezeichnet war, aber mehr im Hintergrund abgebildet blieb. Im weiteren Verlauf der Projektentwicklung scheint sich das aber irgendwie verändert zu haben. Schon die Bezeichnung lautet jetzt „Kindeswohlgefährdung und allgemeiner sozialer Dienst“. Ich weiß nicht, ob diese Veränderung dazu führen wird, dass wir uns – wie auch mit der  Eingangsfrage für heute hervorgerufen - auf das Kindeswohl konzentrieren und das Ganze auf diesen Aspekt fokussieren. Sollte das das Anliegen und damit auch das Ziel des Projektes sein, so müssen wir das präzise und ehrlich so benennen.

 

Zum Begriff Kindeswohl will ich hierbei bemerken, dass aus meiner Sicht  Kindeswohlgefährdung immer der Anlass für den allgemeinen Sozialdienst ist tätig zu werden, ob nun generell präventiv in Stadtteilkonferenzen, wenn es darum geht, die Lebensbedingungen der Kinder günstig zu gestalten, bis hin zu allen möglichen konkreten Angeboten der Erziehungshilfe. Es scheint sich aber heraus zu kristallisieren, dass es um Kindeswohlgefährdung im engeren Sinne geht (Stichwort Feuerwehrfunktion). Da soll jetzt Qualität angelegt werden. Das deckt sich mit den Überlegungen, die wir in der Arbeitsgruppe beim Städtetag anstellen werden. Insofern will ich nicht dagegen sprechen. Ich bin nur der Auffassung, der Projektauftrag muss noch einmal präzisiert werden. Worum geht es genau. Wenn es um Kindeswohlgefährdung im engeren Sinne, im Kontext von Inobhutnahme, Herausnahme usw. geht und dem ASD, dann hat das für mich auch auf spätere Zeit betrachtet für die Qualitätsbestimmung beim ASD eine ganz andere Wirkung. Ich kann nachvollziehen, wenn gesagt wird, es geht zwar um den ASD, ich kann das wegen der Vielfalt der Aufgaben jetzt aber nicht insgesamt abarbeiten und nehme einen wichtigen Bereich heraus. Der darf aber auch nicht so eng zusammengeschnürt sein, dass ich nachher gar nicht mehr über den ASD diskutiere, sondern über Kindeswohlgefährdung und der ASD wieder einmal im Hintergrund bleibt.

Also: das ist meine Wahrnehmung und ich war irritiert, dass jetzt nicht die Eingangsfrage z.B. lautete, wie ist der Stellenwert des ASD zu bewerten, auch im Qualitätsranking, sondern was haben Sie zur Kindeswohlgefährdung zu sagen. Demnach muss noch einmal das Projektziel genau bestimmt werden. Dabei muss aus meiner Sicht die Qualitätsbestimmung im ASD im Vordergrund stehen.

 

 

Herr Dr. Thomas Meysen
Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht
Zähringer Str. 10, 69115 Heidelberg
(ab 1. April 2002: Poststr. 17)

Von dem weit gefächerten Hilfeauftrag, der den Jugendämtern im SGB VIII übertragen ist, fällt ein zentraler und ausgesprochen breiter Kernbereich in die Verantwortlichkeit der Sozia-len Dienste. Sie initiieren und organisieren Hilfen. Das Spektrum der Hilfen, mit dem sich die Fachkräfte in den Sozialen Diensten zu befassen haben, reicht dabei vom Bereich der För-derung von mit ausreichend Ressourcen ausgestatteten Familien über die Prävention bei potenziell drohender Gefährdung bis hin zu dem Bereich von Intervention zur Verhinderung weiterer akuter Gefährdungen.
Fälle, in denen eine Kindeswohlgefährdung im Raum steht, bilden somit einen Schwerpunkt in der Arbeit der Sozialen Dienste. Hierbei hilft das Jugendamt nicht nur mit präventiven Maßnahmen, sondern auch wenn ein gefährdetes Kind oder ein gefährdeter Jugendlicher Schutz bedarf. Es gewährt wenn erforderlich in einem einheitlichen Auftrag Hilfe auch durch Schutz. Ohne einen Perspektivenwechsel von der Gefährdungssituation des Kindes bzw. Jugendlichen zur Eingriffssituation bei den Eltern vornehmen zu müssen, stellt sich bei die-sem einheitlichen Mandat der Kinder- und Jugendhilfe nun die Frage, wann eine unterstüt-zende Hilfe in eine Hilfe durch Schutz übergeht.
Das Projekt "Kindeswohlgefährdung und Allgemeiner Sozialer Dienst" setzt nach seiner Be-schreibung an dieser Schwelle an und greift somit einen zwar kleinen, aber ausgesprochen sensiblen Ausschnitt aus dem Tätigkeitsfeld der Sozialen Dienste auf. Was für ein bedeuten-des und emotionsbehaftetes Rechtsgut es hier zu schützen gilt, wird nicht zuletzt bei der Frage nach einer strafrechtlichen Verantwortung in der Jugendhilfe deutlich. Indem auch die Fachkräfte in den Sozialen Diensten sind hier ins Blickfeld der Strafjustiz geraten sind, wur-den Wichtigkeit und Stellenwert ihrer Arbeit noch einmal nachdrücklich unterstrichen.
Die Beschränkung des Projekts auf Kindeswohlgefährdungen im engeren Sinne bietet somit die Möglichkeit, exemplarisch an einer exponierten Aufgabe Orientierungen für das professi-onelle Helfen in den Sozialen Diensten zu geben. Dieses Vorhaben ist uneingeschränkt zu begrüßen. Ausgelöst durch die bekannt gewordenen Fälle, in denen sozialpädagogische Fachkräfte aus den Sozialen Diensten strafrechtlich verfolgt wurden, ist in den Jugendämtern eine Verunsicherung zu spüren. Es besteht ein gesteigertes Bedürfnis nach Handlungssi-cherheit.
Nicht die Fragen nach der Diagnostik oder nach der geeignetsten Hilfe stehen hier im Vor-dergrund, sondern Fragen nach dem besten Verfahren für das fachliche Handeln im Kontext von Kindeswohlgefährdungen im engeren Sinne. Der Reichtum der Variationsbreite an un-terschiedlichen Verfahren auf der örtlichen Ebene ist groß. Dies fängt beim Verfahren zur Definition von entsprechenden Standards im jeweiligen Jugendamt an, setzt sich bei der Be-teiligung in den Entwicklungsprozessen sowie der Begleitung der Durchführung durch die Leitungsebenen fort und hört bei der Umsetzung durch die einzelnen Fachkräfte auf.
Wichtige Teilaspekte sind hierbei auch die Fragen der Kooperation mit oder Abgrenzung von anderen mit Kindeswohlgefährdung befassten Institutionen und Diensten. Das betrifft insbe-sondere eine Klärung des Verhältnisses zur Polizei und zu den Familiengerichten sowie der beiderseitigen Zusammenarbeit. Auch hier stellen sich für die Arbeit in den Sozialen Diens-ten Verfahrensfragen. Aufgrund der institutionsübergreifenden Dimension wird hier eine Ent-wicklung von Standards jedoch nur unter Einbeziehung von Polizei und Familiengerichten gelingen können.
Dem Projekt ist aller erdenklicher Erfolg zu wünschen. Es kann zwar sicherlich nur den An-fang einer umfassenden Erforschung und unterstützenden Qualifizierung der Arbeit in den Sozialen Diensten der Jugendämter machen. Aber es greift den Teil des sozialpädagogi-schen Handelns auf, in dem die Fachkräfte derzeit mit Sicherheit am dankbarsten für jede Unterstützung bei der Suche nach Handlungssicherheit und Orientierung sind.

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Herr Jehl

Polizeipräsidium München

Schwerpunkt Prävention, Kommisariat 314

Etschstr. 2, 80333 München

 

Polizeipräsidium München, Dienststelle Kommissariat 314

Aufgabenbereich verhaltensorientierte Prävention und Opferschutz

Schwerpunkt Beratungstätigkeit im Opferschutzbereich.

 

Wir sind als Polizei natürlich auch ein Kooperationspartner vom ASD, aber mal ganz kurz zu Ihrer Verständigung auch, ich möchte mal was zur Organisation unserer Dienststelle sagen. Wir sind eine Beratungsstelle, natürlich eine Präventions-Dienststelle für verhaltensorientierte Prävention und Opferschutz, unsere Dienststelle steht auf drei Säulen, das eine ist die Jugendkoordination, das andere ist die Beauftragte der Polizei für Frauen und Kinder, und das andere ist der Opferschutzbereich. Im Opferschutzbereich haben wir nochmals eine Untergliederung, und zwar gibt´s da einen Ansprechpartner für Sucht und Drogen und einen Ansprechpartner für Sekten und Okkultismus, alle diese Leute machen Beratung und alle haben irgendwo auch mit Kindern zu tun und natürlich auch mit Jugendlichen. Ich denke, wir haben natürlich das rechtliche Repertoire, wenn wir insbesondere die Masse an Frauen beraten, wo wir Anzeigen rein kriegen wegen Körperverletzung, Bedrohung, ja, da geht´s immer um eine Gefahr für das Leben, die Gesundheit von Frauen, und dann sind ja immer auch- da ist ja immer auch das Wohl der Kinder mit gefährdet. Und so würde wieder eben im Opferschutzbereich zurückgreifen können auf z.B. das Zeugenschutzgesetz, ja, und die Besserstellung der Opfer im Strafverfahren, oder jetzt das neue Gewaltschutzgesetzt, was ja eingeführt wird, es wird ja immer weiter gearbeitet, werden ja immer mehr Opferrechte verbessert, da geht´s natürlich auch darum, dass man das rechtliche Repertoire ausschöpfen sollte im Kinder- und Jugendlichenbereich. Nur ist hier das Problem, wenn wir von Kindeswohlgefährdung erfahren, dass wir ja nur einen Teilbereich erfahren, weil alles andere geht ja irgendwo unter. Weil den Kindern, den Jugendlichen fehlt ja die Beschwerdemacht, bei wem soll er sich denn beschweren, wo sollen sie sich denn hin wenden, an den Eltern, wenn die Gefahr von den Eltern ausgeht, wohl nicht. Weil das ja wenig bringt. Und wir haben ja eingangs gehört, wir hören ja sehr wenig von den Nachbarn, wir hören ja kaum was von Schulen und fast gar nichts von Kindergärten. Ein Teil kommt von der Polizei, aber das ist ja auch nur ein Fünftel. Also so gesehen, wo erfahren wir denn was, wir erfahren ja immer nur einen Teil. Und das, denk ich, ist das Problem, dass da auch die Bevölkerung mal sensibilisiert gehört, dass auch einmal ein Fingerspitzengefühl entwickelt wird für Kindeswohlgefährdung. Ist immer irgendwo zu sehr im Dunkeln, dieser Bereich, aber natürlich haben wir, wenn wir erfahren, dann auch die Möglichkeit natürlich nach dem Gesetz zum Schutz der Jugend in der Öffentlichkeit, eben diese in Obhutnahme und nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz die Möglichkeit der Beratungstätigkeit, sich abzusprechen mit dem Jugendamt und mit dem Allgemeinen Sozialdienst und zu dieser Praxis möchte der Kollege was sagen.

 

 

Herr Dr. Wolfgang Raack

Direktor des Amtsgericht Kerpen

Nordring 2-8, 50171 Kerpen

 

Als Direktor des Amtsgerichts Kerpen bin ich einer der wenigen Familien- und Vormundschaftsrichter, die sich neben der richterlichen Tätigkeit auch mit Verwaltungund Management befassen, wobei insbesondere in den letzten Jahren die Reorganisation der Justiz in NRW erhebliche Veränderungen brachte.

Seit mehr als zehn Jahren beschäftige ich mich mit Kooperationsmöglichkeiten. Vernetzung ist dabei aber ein Thema, das ich auch gerne im Bereich Kinderschutz bei der Zusammenarbeit  von Familiengericht und Jugendhilfe verwirklichen möchte.

 

Ich bin als Jurist ja nur der Kooperationspartner des ASD und kann nichts dazu sagen, wie der ASD noch besser arbeiten könnte usw., ausser natürlich aus meiner Kooperationssicht heraus, und das ist auch im Grunde mein Thema seit mehr als zehn Jahren.

Die Kooperation knüpft dabei an die Projektbeschreibung des DJI an, wenn es dort heisst, man sollte Strukturen schaffen, um im konkreten Einzelfall, wie aber auch im Vorfeld von Fällen z.B. mit den Gerichten kooperieren und ich möchte hinzufügen, wie Münder und Schone es einmal ausgedrückt haben,“wir nehmen jetzt, wenn wir erkannt haben, dass etwas Nachdruck erforderlich ist, das Familiengericht mit ins Boot“. Die Familienrichter sind nämlich Menschen, die mit Gewaltmonopol ausgestattet sind und das durchsetzen können, was durchzusetzen ist und was wir aufgrund unserer Fachlichkeit als richtig erkannt haben. Nur - das Familiengericht mit ins Boot zu nehmen ist schwierig; Frau Professor Zenz hat denn auch anlässlich der Tagung in Frankfurt am 20./21.02.2001 zum Thema „Kindeswohl, Staatliches Richteramt und Garantenpflicht des Jugendamtes“beklagt, dass die Familien- richter sich einfach nicht mit ins Boot nehmen lassen und deswegen habe ich auch in den letzten 12 Jahren versucht, von einer kleineren Einheit, einem mittleren Amtsgericht aus, ein Kooperationsmodell zu entwickeln. Das war damals sehr stark auf Missbrauch (das so-genannte Kerpener Modell, das sehr bekannt geworden ist), zentriert. Diese Einengung des Themas haben wir längst verlassen, wir beschäftigen uns genau so intensiv mit Schulschwänzern, sind diesbezüglich in Diskussion mit den Bayern natürlich, die einen anderen Weg mit der „Schülerpolizei“ gehen. Wir machen das über eine Ergänzungs-pflegschaft – ich habe das in einem Artikel in der FPR 2001, 258ff ein bischen aufgegliedert-; es geht also nicht allein um die Kindeswohlgefährdung im engeren Sinne, sondern wenn z.B. die Hilfeplanung nicht in Gang kommt, weil kein Antrag gestellt wird, dann stehen wir zur Verfügung nach unserem Kooperationsmodell, um eben da die Verbindlichkeit zu schaffen. Bis zum Jahre 1998 lief das eigentlich recht gut, da waren die Aufgaben insbesondere gemäß § 1666 BGB nämlich beim Vormundschaftsgericht gebündelt. Mit der Kindschaftsrechtsreform von 1998 haben wir einen schweren Einbruch erlitten, in dem diese Spezialaufgaben auf alle Familienrichter verteilt worden sind. Das wäre alles nicht schlimm, wenn man z.B. der Polizei und der Staatsanwaltschaft folgen würde und sagen, ja, wir bündeln das wieder und wir schaffen ein entsprechendes Sonderdezernat. Das haben wir auch gemacht in Kerpen; das wurde auch im Infodienst des Landesjustizministeriums veröffentlicht und auch in der KindPrax 1998, 49ff, aber es ist nicht durchzusetzen, obwohl es rechtlich durchaus praktikabel ist. Die früheren vormundschaftsgerichtlichen Funktionen sind also in meinem Dezernat konzentriert; die Polizei oder wer auch immer weiss, dass man mich jederzeit erreichen kann. Die frühere Leiterin des ASD in München, Frau Tauche, hat hierzu auch sehr schön geschrieben (KindPrax 1998, 100) es müsse auf gleichberechtigter Ebene die Möglichkeit gegeben werden, zu kommunizieren. Das ist für mich auch das entscheidende Korrektiv, also dass ein Roundtableprozess in Gang kommt, um vielfache gegensätzliche Entscheidungen bzw. sogar Fehltentwicklungen wie in Belgien zu vermeiden. Es sind so viele fachlich kompetente Leute beteiligt, dass selbst wenn eine Profession völlig versagen sollte, weil sie z.B pädophil unterwandert ist oder was weiss ich, selbst wenn das passieren würde, ist durch dieses Roundtable Zusammenkommen doch gewährleistet, dass wir keinen blinden Fleck haben, sondern die richtige Entscheidung hoffentlich annähernd finden. Und dann mit gerichtlichen Massnahmen durchsetzen. Leider habe ich auch in sehr vielen Fortbildungen, wo ich als Referent dafür geworben habe, immer wieder Familienrichter angetroffen, die über das eigentliche Instrumentarium des Familiengerichts selbst nicht Bescheid wussten, geschweige denn unsere Kooperationspartner bei der Polizei, in deren Fortbildungsinstitut in Neuss ich regelmäßig als Referent gewesen bin. So ist insbesondere die go-Order, ein sehr exekutives Element, das der dritten Gewalt auch durch das Sorgerechtsänderungsgesetz von 1998 nochmal ausdrücklich zugebilligt worden ist,  weithin nicht bekannt. Dabei wäre es doch wunderbar, Massnahmen, die die Polizei nicht ergreifen kann, weil dort die Beweislage „in dubio pro reo“ es nicht erlaubt, mit unserem familiengerichtlichen Freibeweis das Interesse des Kinderschutzes z.B. mit der go-Order durchzusetzen. Das ganze ehemalige vormundschaftgerichtliche Repertoire von der Ergänzungspflegschaft bis hin zur Vormundschaft aber auch die neue Verfahrenspflegschaft ist den Familienrichtern nicht immer so präsent und das ist auch verständlich, da diese mit den wirtschaftlichen Folgen von Scheidung und Trennung und der ausgesprochen komplizierten Unterhaltsrechtssprechung so ausgelastet sind, dass sie sich auf solche „Nebenschauplätze“ sehr ungern einlassen. Es ist auch völlig unwirtschaftlich, denn wenn sie das in München z.B. auf 23 Familienrichter verteilen, müsste ja jeder dieser 23 Kolleginnen und Kollegen sich dazu sehr stark fortbilden. Das kann sie/er nicht, sodass es reine „Glückssache“ ist, ob man auf eine Kollegin/einen Kollegen stößt, die/der dann da ihren/seinen Schwerpunkt hat oder dort. Langer Rede kurzer Sinn, es wurde bei uns ein Handlungskonzept entwickelt, in dem wir deutlich gemacht haben, dass das rechtliche Repertoire im Grunde ausreichend wäre, wenn es nur ergriffen würde. Wir sind also ansich bei der Justiz sehr kooperationsfähig, aber wohl nicht genügend kooperationswillig. Dann kommen auch solche Argumente, die nicht auszutreiben sind: „Wenn ich kooperiere im Vorfeld, werde ich befangen“, ein Argument, das Ihnen auf Anhieb jeder Richter, sagen wir mal 95 % der Richter, sagen würde. Da wir die Amtsmaxime haben, ist es aber völlig egal, ob ich etwas vom Kindergarten, aus der Zeitung, von der Polizei erfahre und darüber im Vorfeld mich austausche, ich habe eine Amtsermittlungspflicht und ich kann alle Beweise ergreifen oder erheben. Ich muss das nur dokumentieren, das ist ganz klar. Und dazu haben wir aber auch in unserer Aktenordnung die entsprechende Möglichkeit, z.B. eine Xer- Akte anzulegen. Also es ist alles möglich, aber nicht bekannt, und deswegen sagte ich anfangs auch, ich bin etwas resignativ nach 12 Jahren auf dem Gebiet und war auch sehr enttäuscht bei der Literaturliste hier; es geht mir übrigens sehr häufig so, dass der familiengerichtliche Beitrag zu diesem Thema nicht beachtet wird. Und ich hab beinah so´n Gefühl, dass das so eine Art Kollusion ist, die Familienrichter sagen, bleiben wir in Deckung, sonst kommt noch mehr Arbeit, und der ASD und die Jugendhilfe sagen, bloß nicht Familiengericht, denn das kompliziert die Sache und wir verlieren die Kontrolle über den Fall. Es ist also so eine geheime Kollusion, wir kümmern uns nicht umeinander, und das geht so weit, dass von einem Familiengericht in einer Grossstadt berichtet wird, wenn ein Fall von Misshandlung oder Missbrauch ans Familiengericht herangetragen wird die Antwort lautet, „ach das gehört in den Bereich der Polizei“ und schon sind die Opfer weitergeschoben.

 

 

Herr Rudolf Wagner

Polizeipräsidium München

Schwerpunkt Repression, Kommisariat 123

Bayerstr. 35-37, 80335 München

 

Leiter des Kommissariats 123 beim Polizeipräsidium München

Schwerpunkt ist die Verfolgung von Straftaten, wie Misshandlung von Schutzbefohlenen

 

Das Kommissariat 123 ist  u.a. zuständig für Straftaten wie die Misshandlung von Schutzbefohlenen. Die Kriminalpolizei und der ASD sind mit unterschiedlichen Zielsetzungen an der gleichen Basis beschäftigt.

Für die Kriminalpolizei gilt, dass Straftaten im häuslichen Bereich kriminalistisch schwer zu bearbeiten sind. Dies liegt daran, dass der Täter durch die häusliche Gemeinschaft in der Regel Druck auf sein(e) Opfer ausübt. Häufig bestehen Zeugnisverweigerungsrechte gegenüber dem Täter. Spuren lassen sich alternativ erklären.

Für die Ermittlungsarbeit ist es wichtig, bereits im Anfangsstadium Beweise zu sichern, wie z.B. eine Misshandlung durch die Untersuchung eines Rechtsmediziners sowie fotografische Dokumentation der Verletzungen. Auch Äußerungen kurz nach der Tat durch Täter, Opfer oder Zeugen sind enorm wichtig.

ASD und Polizei brauchen Informationen, um ein objektives Bild der Familiensituation zu bekommen, weil davon weitgreifende Maßnahmen abhängen. Für den ASD stehen Entscheidungen wie Fremdunterbringung oder Erziehungsbeistandschaft an, während die Kriminalpolizei Wohnungsdurchsuchung, Festnahme des Täters oder richterliche Vernehmung von Familienmitgliedern zu prüfen hat.

Wenn die Informationen zwischen ASD und Polizei nicht fließen, wird es immer wieder zu Behinderungen oder auch zu falschen Ergebnissen kommen.

Es wird auch Fälle geben, wo der ASD sich die Frage stellt, ob eine Weitergabe von Informationen die Gefahr bringt, dass er das Vertrauen der Familie verliert, weil sie den ASD auf Seite der Polizei sieht. Auch der Legalitätszwang der Polizei kann Probleme bringen. Hier kann nur das offene Gespräch und das taktische Fingerspitzengefühl zwischen den Behörden eine Lösung bringen, bei der beide die Belange der anderen Behörde respektieren.

Problematisch ist dabei § 73 SGB. Gemäß § 73 SGB bedarf es einer richterlichen Übermittlungsanordnung, um über den ASD eine Auskunft zu erhalten. Dies führt dazu, dass der Informationsfluss zwischen dem ASD und der Kriminalpolizei nur wenig funktioniert. Es sollte ein Ziel dieser Forschungsgruppe sein, die Politik dafür zu gewinnen, dass mehr Handlungsspielraum zwischen den Behörden möglich ist.

Es wird letztlich darauf ankommen, wie die Behörden untereinander miteinander umgehen. In diesem sensiblen Bereich wird es daher immer auch um die Personen gehen, die miteinander arbeiten. Es sollte jedoch der rechtliche Rahmen für ein Zusammenarbeiten geschaffen werden. Dies könnte in der Möglichkeit eines Vetos bestehen bei grundsätzlichem Informationsaustausch.

Der Bereich der häuslichen Gewalt ist ein sehr sensibler Bereich, der auch sensibel bearbeitet werden muss.

Beide Behörden können voneinander profitieren – der ASD wird aufgrund seiner Zielsetzung mehr persönliche Informationen aus der Familie bekommen, die Polizei wird aufgrund der Erfahrung in der Beweissicherung mehr objektive Informationen erhalten – und insgesamt ein komplexes und objektives Bild der Familie erarbeiten.

Dies kann für das Kindeswohl nur von Vorteil sein.

 

 

Frau Müller-Bahr

Landratsamt Biberach

Rollinstr.9, 88400 Biberach

  

Ich möchte dem Begriff der Kindeswohlgefährdung den Schockcharakter nehmen, damit  einerseits die Lähmung vor Entsetzen aber auch übereilter Aktionismus vermieden werden kann.Ich verkenne dabei nicht,dass der Druck von verschiedenen Systemen wie Schule,Nachbarschaft Kindergarten etc. ungemein stark werden kann.

Auch wenn ein Kind durch eine Misshandlung verletzt wurde und in Obhut genommen werden muss ist als nächstes immer das Gespräch mit den „Tätern“ nötig.

Jedem der solche Gespräche führt wird deutlich dass die Kindeswohlgefährdung aus einem bestimmten Kontext heraus geschieht,der in der Regel veränderbar ist.

Bevor die Gefährdung offenbar wird sind viele Systeme dem Sozialen Dienst bereits bekannt. Überforderungssituationen rechtzeitig zu erkennen und mit geeigneten Hilfsangeboten für eine begrenzte Zeit die Systeme zu fördern halte ich für sinnvoll.

Bei dieser Unterstützung zur Vermeidung gefährdender Situationen sollen eher die Kräfte der Familie aktiviert werden.

Die Sozialarbeit in Form einer jahrelangen Begleitung der Familie führt in der Regel eher zu einer Unselbstständigkeit als zur Stärkung.

Die Tendenz zur  Kindeswohlgefährdung sollte schon wahrgenommen werden,bevor ein Kind in Obhut genommen wird,damit noch geholfen werden kann und nicht nur reagiert werden muss.

In diese Überlegungen sind auch die Familien- Vormundschaftsgerichte mit einzubeziehen. Anhörungen bei Gericht oder Auflagen bis hin zum Entzug einzelner Teile des Sorgerechts habe ich als sehr hilfreich erlebt.

Jeder Mitarbeiter des Sozialen Dienstes erlebt die Gefährdungssituation gemäß seiner persönlichen und beruflichen Position anders Es ist mir bewusst,dass es kein einheitliches Handlungskonzept geben kann;wichtig ist mir die gemeinsame Suche nach Handlungsstrategien,mit denen der Mitarbeiter im Sozialen Dienst mehr Sicherheit im Umgang mit diesem Arbeitsbereich gewinnt. 

Die Beurteilung,wann eine Gefährdung beginnt und erste „sanfte“ Schritte getan werden müssen ist zwischen dem Familiengericht und dem Sozialen Dienst oft unterschiedlich.

Im Augenblick arbeite ich mit einer jungen Frau mit zwei Kleinkindern,die heroinabhängig ist .Das kleinere Kind hatte nach der Geburt Entzugserscheinungen.Die Kinder haben zu Essen,Kleidung,Betten und ein Dach über dem Kopf.Die junge Frau ist auf Grund ihrer Sucht nicht in der Lage,den Kindern einen Tag-Nacht Rhythmus zu vermitteln oder auf ihre Bedürfnisse einzugehen,wenn es ihr selbst schlecht geht.

In dieser Familie sehe ich eine Gefährdung der Kinder,die ich vorübergehend in eine Pflegefamilie bringen möchte,damit sich die Mutter zum Entzug entschließen kann.

Das Gericht  wünscht verstärkte Motivationsarbeit mit der jungen Frau.

Eine weitere Frage, die ich gern bearbeiten möchte ist,wie die kulturellen Unterschiede der in Deutschland lebenden ausländischen Familien berücksichtigt werden sollen.Menschen aus Russland,Albaner,Türken,Iraki bringen ein völlig anderes Erziehungs- und Sanktionsverhalten mit.  

 

Herr Rebbe

Kreisverwaltung Unna

Hansastr. 4, 59425 Unna

 

Industriekaufmann und Diplom-Sozialpädagoge

stellvertretender Leiter des Fachbereichs Familie und Jugend bei der Kreisverwaltung Unna, zuständig für den Bereich ambulante Hilfen zur Erziehung und Kindertageseinrichtungen, Moderation von Hilfeplan-Konferenzen

 

Ich hab mich dem Projektthema „Kindeswohlgefährdung im Kontext der ASD-Arbeit“ aus  Sicht eines öffentlichen Jugendhilfeträgers gewidmet, also eines Jugendamtes. Ich möchte einige, vielleicht recht plakative Wahrnehmungen meiner Praxis schildern, die Ihnen bestimmt nicht neu sind und die eigentlich auch diskutiert werden müssten.  Viele der hier genannten Aspekte sind für die Praxis der öffentlichen Jugendhilfe ständige Wegbegleiter und beschreiben das Spannungsfeld, in dem wir uns befinden.

 

- Auf dem Hintergrund, dass Kindeswohlgefährdung als unbestimmter Rechtsbegriff nicht näher bestimmt ist, füllt die fachliche Praxis und die gängige Rechtsprechung den Definitionsspielraum von Kindeswohlgefährdung. Das macht eine gewisse Beliebigkeit in der Bewertung, wann das Kindeswohl im Einzelfall gefährdet ist, beobachtbar. Frau Wnuk-Gette hat das eben an einem Fallbeispiel deutlich gemacht. Die Grenze zwischen vertretbarer elterlicher Erziehungsverantwortung und Kindeswohlgefährdung bleibt häufig unklar. Diese Projekt kann hier ein Stück zur Klarheit beitragen. Wichtige Frage in der Praxis ist in dem Zusammenhang: Wie interpretieren eigentlich die Personensorgeberechtigten das Kindeswohl und in wie weit ist diese Interpretation vertretbar?


- Ich nehme in der Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wahr, dass der Spagat zwischen Hilfe/Dienstleistung und Eingriff/Wächteramt zunehmend belastender empfunden wird. Der Ausdruck fachlicher Hilflosigkeit/Verunsicherung mündet nicht selten in den Versuch beide Positionen zu harmonisieren mit dem Ergebnis, dass Eindeutigkeit und Transparenz in der Bewältigung verloren geht und Hilfen zur Erziehung kaum noch wirksam eingesetzt werden können. Die Fragen dazu sind: Rufen die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter zu früh das Gericht an? Sind bereits alle Möglichkeiten der Jugendhilfe ausgeschöpft?
Sind aussergerichtliche Konfliktlösungsmöglichkeiten/Konfliktreduzierung in Betracht gekommen und genutzt? Sind weitere präventive Massnahmen vorhanden, die zur Beseitigung der Gefährdung geeignet sind? Jetzt nach dem Beitrag von Herrn Raack würd ich gerne fragen: Gibt es Kooperationspartner, die uns frühzeitig behilflich sind, die Themen in der Familie zu bearbeiten?

- Ein weiteres Problem in meiner Praxiswahrnehmung ist die Kommunikation der Beteiligten. Die Personensorgeberechtigten, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im ASD, die Juristen, die Kinder, alle haben ihre eigene Sprache. Das macht Verständigung oft so schwer und erfordert viel Einfühlungsvermögen und ein hohes Maß an Kompetenz, sich dem jeweiligen Partner verständlich zu machen. Wobei nochmals besonders gesehen werden muss, wie Kinder an den sie betreffenden Prozessen beteiligt werden können. Hier find ich, ist ein besonderer Schwerpunkt zu setzen, auch aus der Sicht von Beteiligung, von Partizipation. Die Anhörung und Entscheidung in Sorgerechtsangelegenheiten vor Gericht sind eindeutig erwachsenenorientiert. Da wird zunächst die Prozesskostenfrage geklärt innerhalb einer beginnenden Verhandlung oder einer Anhörung und das geht durchaus am wesentlichen Anliegen vorbei. Stellt sich die Frage: Wo bleiben die Beteiligungsrechte der Kinder, wer sorgt für einen kindgerechten Ablauf.

- Der Umgang mit Kindeswohlgefährdung ist nur selten Bestandteil konzeptioneller Handlungsempfehlungen innerhalb des ASD. Gleichzeitig fehlt für die Abwehr von Gefahren für das Kind häufig die Schaffung notwendiger Rahmenbedingungen im Strukturkonzept eines Jugendamtes, z.B. in einem Leitbild, indem das Wächteramt des Jugendamtes benannt wird. Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter stehen trotz aller Unterstützung und Fürsorge des Arbeitgebers/der Leitung, kollegialer Beratung, Qualifizierungsangeboten und Supervision, letztlich in der Fallverantwortung und sind gerade auch durch die Diskussion um die bekannten Urteile einigermaßen verunsichert. Ich bin sehr dankbar für die Arbeitsgruppe beim Deutschen Städtetag, die am kommenden Montag unter Vorsitz von Herrn Werner ihre Arbeit aufnimmt. Ich denke, dass die Kolleginnen und Kollegen neue Sicherheit brauchen, um handlungsfähig zu bleiben.

- Deutlich beobachtbar ist, dass Veränderungen und Neubewertungen von Positionen zum Kindeswohl in einem komplexen gesamtgesellschaftlichen Kontext geschehen und damit auch Risiken und prägende Faktoren einen veränderten Bezug erhalten. Auf dem Hintergrund leerer Kassen der öffentlichen Haushalte sind Stimmen der Politik zu hören, wie: Man muss mehr aushalten, den Hilfebedarf nicht zu eng sehen, länger hinkucken, niederschwellige Angebote machen, Übernachtungsangebote ohne pädagogische Beratung und Begleitung anbieten, also Kosten sparen ist die Handlungsmaxime. Das sind  letztlich die Vorgaben, die uns aus der Politik angetragen werden. Und das ist sicherlich ein Kontext, den wir in der Arbeit des ASD berücksichtigen müssen. Es macht Sinn über neue Angebote nachzudenken. Es bleibt jedoch kritisch anzumerken, auf dem Hintergrund welcher Interessen dies  geschieht.

- Eine letzte Bemerkung: Die Position des Jugendamtes erhält einen anderen Stellenwert, wenn im Sorgerechtsverfahren sich Personen Sorgeberechtigte durch einen Anwalt vertreten lassen. Es ist meine Beobachtung, dass die Darlegungen des Jugendamtes eher angezweifelt werden, wenn ein Anwalt die Personensorgeberechtigten vertritt. In der Vergangenheit liegende Gefährdungsmomente werden relativiert und im Verfahren in frage gestellt. Meine Wahrnehmung ist, dass dann der (das hört sich jetzt etwas böse an)
juristische Schulterschluss erfolgt und die fachliche Bewertung des Jugendamtes wenig Beachtung findet in dem verfassten Beschluß, vielmehr die Position des Vormundschaftsgerichtes an Klarheit und Transparenz verliert.

- Kindeswohlgefährdung heißt für mich, eine würdige Entwicklung des Kindes ist nicht garantiert, seine Grenzen werden nicht respektiert, die Grundbedürfnisse nach emotionaler Nähe und Geborgenheit nicht erfüllt. Stattdessen
wird das Vertrauen und die Selbstachtung, der Selbstwert des Kindes in seinem subjektiven Empfinden gestört.

- Ich finde es gut, dass es dieses Projekt gibt, um die notwendige Diskussion weiter zu beleben, fachliche Standards zu benennen, Menschen zu qualifizieren, Kriterien und Indikatoren zu entwickeln, Ressourcen zu entdecken und so dazu beizutragen, Kinder vor drohender oder aktuell bestehender Gefährdung zu schützen.

 

 

Prof. Dr. Dipl.-Psych. Franz Peterander

Ludwigs-Maximilians-Universität

Department Psychologie - Frühförderung

Leopoldstr. 13, 80802 München

 

Arbeitsschwerpunkte: Familienzentrierte Kindertherapie, Qualitätsmanagement in sozialen Einrichtungen, Wirksamkeit von Interventionsmaßnahmen, Evaluation und Dokumentation, Entwicklung computergestützter Analyse,- Lern- und Beratungssysteme

 

Im Rahmen der vielfältigen Aufgaben des ASD bildet die Wahrung des „Kindeswohls“ dasjenige herausragende Ziel, das stets das Handeln der Fachleute leiten soll. Allerdings ist es nicht einfach diesen Begriff zu operationalisieren und ihn mit handlungsleitenden Inhalten zu füllen. Was dient dem Kindeswohl bzw. was kann das Wohl des Kindes gefährden? Auf welche Weise können Kinder und Jugendliche unterstützt werden, damit sie eigene positive Entwicklungen machen können? Welche Rolle kommt dabei den Familien dieser Kinder zu? Bei meinem eigenen Arbeitsbereich, der Frühförderung entwicklungsgefährdeter und behinderter Kleinkinder, stehen vergleichbare Fragestellungen im Vordergrund, jedoch ist die Ausgangssituation dieser Kinder und ihrer Familien in einem entscheidenden Punkt eine andere: Eltern suchen aus eigener Initiative den Rat und die Hilfe der Professionellen. Dadurch ist eine hohe Motivation zur Mitwirkung an einer Kooperation von vornherein gegeben. Übrigens zeigen die Ergebnisse eigener Untersuchungen bezüglich der Ziele der Förderung der Kinder, dass Eltern und Fachleute in der Frühförderung als erstes Ziel ihres Handelns das Wohlbefinden von Kindern genannt haben.

Im Laufe der Zeit haben sich zu dieser Frage in der Frühförderung eine Reihe bedeutsamer Prinzipien herausgebildet, die für die Kindförderung und Elternberatung handlungsleitend sind und auf deren Grundlage die Frühförderung zu einem anerkannt erfolgreichen System der frühen Hilfe geworden ist. Es wäre daher zu fragen, inwieweit solche Prinzipien auch im Zusammenhang mit der Arbeit des ASD und insbesondere im Hinblick auf eine hilfreiche Herausarbeitung wichtiger handlungsleitender Variablen zur Unterstützung des Kindeswohls gleichfalls von Bedeutung sein können.

Eines dieser Prinzipien ist z.B. die Familienorientierung, d.h. die Betonung der Bedeutung des Beitrags der Eltern und des familiären Umfeldes für das Kindeswohl. Wie sieht die Kooperation der Fachleute mit den Eltern im einzelnen aus, wie lässt sie sich erfassen und beschreiben, welche Kriterien einer qualitätsvollen Kooperation lassen sich herausarbeiten?

Weitere Prinzipen der Frühförderung, die im Rahmen der Arbeit des ASD für das Kindeswohl hilfreich sein könnten:

Ganzheitlichkeit: das Kind mit all seinen Stärken und Schwächen steht im Mittelpunkt der fachlichen Unterstützung. 

Interdisziplinarität: Die Individualität der Kinder erfordert eine intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen bei der Diagnose, der Erstellung des Förderplans sowie im weiteren Verlauf der Förderung und der Elternarbeit. Notwendigkeit zur Weiterentwicklung der Qualität der Teamarbeit und Teamentwicklung.

Vernetzung: Zusammenwirken verschiedener sozialer Dienste und Einrichtungen, Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechnologien. In der Literatur wird davon gesprochen, dass Frühförderung eine ›Drehscheibe‹ ist, und dass ihr Case-Management Aufgaben zukommen. Wie sieht hier die Situation im ASD aus?

Soziale Integration/Eingliederung: Frühförderung wie auch die Arbeit des ASD sollen zur Integration der Kinder in die Familie und in die Lebens-, Spiel- und Lerngemeinschaften der Gesellschaft beitragen. Die Kinder sollen die dafür notwendigen Kompetenzen erwerben. Mitwirkung der sozialen Einrichtungen an der Schaffung positiver gesellschaftlicher Rahmenbedingungen.

Da infolge neuer gesetzlicher Rahmenbedingungen die Effektivität der sozialen Arbeit durch die Geldgeber stärker nachgefragt wird, muss die Entwicklung und der Einsatz von Instrumenten zur Selbst-(Evaluation) auch der Leistungen des ASD vermehrt im Vordergrund stehen.

Kindsentwicklung: Im Rahmen entwicklungspsychologischer Theorien und Studien haben Ramey & Landesman Ramey (1998) sechs zentrale psychosoziale Entwicklungsmechanismen benannt, die eine wichtige Grundlage für eine "normale" positive kindliche Entwicklung bilden und dementsprechend häufig und voraussagbar auch im Alltag von Kindern realisiert werden müssen: Ermunterung zur Erkundung der eigenen Lebenswelt, Förderung grundlegender kognitiver und sozialer Fertigkeiten, Vermittlung neuer Fertigkeiten, Einübung und Erweiterung neuer Fertigkeiten, Schutz vor unangemessener Bestrafung oder Spott im Zusammenhang mit Entwicklungsfortschritten, Förderung der Sprache und der symbolischen Kommunikation. Als handlungsleitende Kriterien für die Diagnostik der Eltern-Kind-Interaktion haben wir „Skalen zum Messung entwicklungsförderlichen Elternverhaltens“ entwickelt (Peterander 1993).

Im Zusammenhang mit der Kooperation des ASD mit den Eltern könnten sich anhand von Ergebnissen von Literaturanalysen – vergleichbar der Arbeit in der Frühförderung - folgende Variablen als hilfreich bzw. wirkungsvoll erweisen:

- Beratung der Eltern über die Entwicklungschancen ihres Kindes: Die Eltern erwerben im Dialog mit den Fachleuten wichtige Kompetenzen für die Erziehung, Gespräche und Beratung bieten Eltern zudem hilfreiche Bewältigungsstrategien für ihre eigene Lebenssituation. 

- Aufbau eines Dialogs Eltern-Fachleute über Erziehungsfragen: soll zur Schaffung förderlicher familiärer Bedingungen für das Kind beitragen und die Eltern-Kind-Interaktion verbessern.

- Gestaltung der Interaktion und Kommunikation zwischen Eltern und Kind: Im Mittelpunkt der Kooperation steht die Schaffung anregender Lern-Bedingungen für das Kind.

- Schaffung entwicklungsförderlicher Bedingungen in der Familie: Auf welche Weise können das familiäre Zusammenleben, die psychische und physische Lebenswelt des Kindes so gestaltet werden, damit sie seinen Bedürfnissen entsprechen. 

- Bearbeitung personaler und familialer Dynamiken: Die Qualität der Akzeptanz der individuellen Fähigkeiten der Kinder durch die Eltern beeinflusst entscheidend die Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern. Den Eltern sollen daher Möglichkeiten eröffnet werden, um ihre emotionalen Belastungen ansprechen zu können.

- Aufbau von Sozialbeziehungen: Die Probleme der Familien und Kinder führen nicht selten zur sozialen Isolation der Mütter/Familien. Ziel der Kooperation mit den Eltern ist daher der Aufbau eines unterstützenden und tragfähigen sozialen Netzwerks.

Förderliche und hemmende Bedingungen in sozialen Einrichtungen: Die Qualität der Arbeit in sozialen Einrichtungen wird in hohem Maße auch von Art und Struktur der Organisation bestimmt: der Kooperation der Mitarbeiterinnen im zumeist interdisziplinären Teams, der Planung und dem Ablauf einzelner Arbeitsschritte, der Gestaltung der Zusammenarbeit mit Familien und mit anderen Einrichtungen. Soziale Einrichtungen bedürfen deshalb eines systematischen Qualitätsmanagements. Mit Blick auf den Erfolg der Arbeit bedeutet dies insbesondere auch die Notwendigkeit des Wissens um die förderlichen und hemmenden organisationalen und personalen Bedingungen in den einzelnen Einrichtungen. Im Zusammenhang mit den intensiven Diskussionen um Qualitätssicherung und Evaluation in sozialen Einrichtungen ist daher heute auch bei der Frage „Kindeswohlgefährdung und Allgemeiner Sozialer Dienst“ das Thema der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität stärker zu beachten.

Literatur                                                                

 

Guralnick, M.J. (Ed.) (1997). The effectiveness of early intervention. Baltimore: Brookes.

Peterander, F. (1993): Skalen zur Messung entwicklungsförderlichen Elternverhaltens. System Familie, 6, 36-47.

Peterander, F. (2000). The best quality cooperation between parents and experts in early intervention. Infants and Young Children. 12, 3, 32-45.

Peterander, F. (2002). Qualität und Wirksamkeit der Frühförderung. Frühförderung interdisziplinär, 2, 21, 96-106.

Petermann, F., Niebank, K. & Scheithauer, H. (2000) (Hrsg.). Risiken in der frühkindlichen Entwicklung. Göttingen: Hogrefe.

Ramey, C.T. & Landesman Ramey, S. (1998): Early Intervention and Early Experience. American Psychologist. Vol 53, no.2, 109-120.

Shonkoff, J. P & Meisels, S.J. (2000).(Eds.). Handbook of early childhood intervention. 2nd Edition. New York: Cambridge University Press.

Speck, O. (1999). Die Ökonomisierung sozialer Qualität. München/Basel: Ernst Reinhardt.

Thurmair, M. & Naggl, M. (2000). Praxis der Frühförderung. München/Basel: Ernst Reinhardt.

Weiß, H. (200): Frühförderung mit Kindern und Familien in Armutslagen. Ernst Reinhardt: München/Basel.

 

 

 Herr Prof. Dr. Reinhart Wolff

 Hilfesystemforschung und Qualitätsentwicklung

«Aus Fehlern lernen» Berliner Standard zur Qualitätssicherung in der Kinderschutzarbeit im Jugendamt

 

1. Notwendigkeit der Qualitätssicherung

Immer wenn staatliche Jugendhilfe, das Kindeswohl zu sichern, scheitert, wenn Konflikte und Krisen im Lebenszusammenhang von Minderjährigen zu tödlichen oder lebensgefährlichen Auseinandersetzungen eskalieren, wenn kleine Kinder aufgrund von Vernachlässigungen umkommen, dann richten sich alle Blicke auf das Jugend-amt. Nicht selten werden schnell Vorwürfe gemacht, man hätte fachlich versagt, man hätte die Kinder auf andere Weise schützen müssen. Ohne den konkreten Fall zu untersuchen, sind viele schnell mit ihrem Urteil fertig. Vorwürfe, fachlich versagt zu haben, die sich mit leicht mobilisierbaren antistaatlichen Affekten gegen Jugendhilfebehörden mischen, spielen auch in den oft sensationellen Darstellung der Medien eine wesentliche Rolle. Ein defensiver Rückzug und die Abwehr der Kritik kennzeichnen andererseits oft die Reaktion der sozialen Fachkräfte.

Beide Haltungen, die pauschale Skandalisierung der Praxis des Jugendamtes wie seiner Fachkräfte (wobei die Komplexität des einzelnen Falles verfehlt wird) sowie eine abwehrende Selbstrechtfertigung behördlicher Hilfepraxis (die jedoch keine Sicherheit schafft), sind unfruchtbar.

Wie in anderen modernen Berufsbereichen wäre es sinnvoll, in der Sozialarbeit die Tatsache ernst zu nehmen, daß in jeder Fachpraxis, in humanen Dienstleistungssystemen zumal, Krisen, Konflikte, ja Fehler vorkommen, in gewisser Weise normal sind. Hilfe - und insbesondere Kinderschutz - bezieht sich nämlich in der Regel auf außerordentlich komplexe, sich verändernde Situationen, an denen viele Menschen und Institutionen beteiligt sind, die nicht einfach regelbar sind. Es ist daher unmöglich, Hilfe, die mit Sachverstand auf die Bewältigung von Elend und Armut, von Krisen und Katastrophen, von lebensgeschichtlichen und sozialen Schwierigkeiten zielt, völlig fehlerfrei zu gestalten.

Das heißt allerdings nicht, daß wir unsere eigenen Fehler, also das Mißlingen unserer fachlichen Bemühungen, einfach hinnehmen dürften. Wir müssen darauf vielmehr mit kritischer Reflexion reagieren und unsere Einstellung zu professionellen Fehlern, Beinahe-Katastrophen und Katastrophen (in der Luftfahrt heißen solche Situationen critical incidents) verändern: Wir ziehen aus Fehlern wichtige Lehren und  nutzen sie als eine Chance zur Verbesserung unserer Arbeit. Wir unterziehen also kritische Vorfälle, d. h. wenn wir mit unserem Dienstleistungsangebot in der Jugendhilfe nicht erfolgreich sind und es zu Fehlern, Unglücksfällen oder sogar Katastrophen im beruflichen Alltag gekommen ist, auch wenn sie nicht ausschließlich dem Jugendamt zuzuschreiben sind, stets einer umfassenden Untersuchung.

 

Wir orientieren uns strategisch und programmatisch neu und tragen mit einer programmatischen und methodischen Qualitätsentwicklung sowie einer ständigen Fehlerkontrolle zur Qualitätssicherung in der öffentlichen Jugendhilfe bei, ohne die ein modernes Hilfesystem nicht bestehen kann.

 

 

2. Die besondere Problematik in der Kinderschutzarbeit

Qualitätssicherung ist in der Kinderschutzarbeit von besonderer Bedeutung. Kinderschutz als Hilfe zur Sicherung des Kindeswohls, ist nämlich in besonderer Weise fehleranfällig. Sie ist als Fachpraxis grundsätzlich gefährdet:

Der staatliche Eingriff in die grundrechtlich geschützten Elternrechte und in die Unverletzlichkeit der Privatsphäre jeder Familie mißrät leicht zum Übergriff (insofern muß sich der Wohlfahrtsstaat strukturell zurückhalten), während andererseits ein Zögern oder ein Scheitern der Fachkräfte, von außen zur Wahrung des Kindeswohls (worüber es keinen gesellschaftlichen Konsens gibt - Kindeswohl ist ein unbestimmter Rechtsbegriff) in einer Familie einzugreifen, schnell und vor allem von Außenstehenden als Vernachlässigung der Fürsorge- oder Garantenpflicht, als fachliche Nachlässigkeit und Verantwortungslosigkeit eingeschätzt werden.

Kinderschutz hat diese Schwierigkeit oft mit besonderem Eifer und bedenkenlosen Hau-Ruck-Verfahren (oft hinter dem Rücken der Betroffenen) zu überspielen versucht. Wie die in den 90er Jahren bekannt gewordenen Fälle in Coesfeld, Nordhorn, Worms, Dresden und auch in Berlin lehren, kommt es dann schnell zu einer Häufung von Kinderschutzfehlern, die Kinderschutz überhaupt diskreditieren. Sie erschweren eine gute Kinderschutzpraxis noch zusätzlich, die ganz grundsätzlich mit besonderen Problemlagen konfrontiert ist:

 

(1) Die betroffenen Sorgeberechtigten sind häufig nicht erreichbar, wehren den Kontakt mit dem Jugendamt ab, sind unfreiwillige Klienten.

(2) Beteiligte Fremdmelder, auf die fälschlicherweise immer wieder öffentliche Kinderschutz-Kampagnen setzen, melden zwar Fälle, wollen aber mit dem Geschehen nichts zu tun haben und sehen auch für sich selbst in der Regel keine hilfreiche Rolle.

(3) Was einem Kind gut tut, wie man es am besten erzieht, darüber gibt es kontroverse Ansichten: D.h. Kindeswohl oder Kindesmißhandlung sind kommunikative, wertende Konstruktionen, über die nicht von vornherein Einverständnis besteht. Wo geurteilt wird, gibt es allerdings auch schnell Vorurteile. Daran sind viele Seiten beteiligt. Oder es entsteht ein regelrechter Clinch, wer denn nun die Dinge richtig sehe. Und dann fährt sich die gut gemeinte Hilfe leicht fest oder wird abgelehnt, obwohl die Betroffenen (und nicht zuletzt die Minderjährigen in schwierigen Lebensverhältnissen) leiden, Hilfe eigentlich brauchten und von ihr auch profitieren könnten.

(4) Darüber hinaus spielt eine Rolle: Die Schärfe der Konflikte, das Chaos oft jahrelang gestörter Beziehungen, die gewaltsamen Auseinandersetzungen, die Verzweiflung und Kontaktlosigkeit in den betroffenen Familien sind nicht einfach zu behandeln. Hilfe hat es bei schweren Fällen von Kindesmißhandlung und Vernachlässigung ganz grundsätzlich schwer. Hier gibt es keine Lösungen nach Schema F, zumal die zahlreich beteiligten Fachkräfte (in unaufgeklärten Übertragungsreaktionen auf das Mißhandlungsgeschehen) häufig auch untereinander noch zusätzliche Konflikte ausfechten und eine produktive Zusammenarbeit verfehlen. Kinderschutz wird dann nicht selten zu einem "Selbstschutz-Unternehmen", schützen die Fachkräfte vor allem sich selbst, weniger die mißhandelten und vernachlässigten Kinder und in der Regel überhaupt nicht die betroffenen Eltern. Schutz der Eltern und Schutz vor den Eltern sind die Achillesferse jeder Kinderschutzpraxis, die oft an ihrer Kindfixierung scheitert.

(5) Schließlich wird die Wahrnehmung der Kinderschutzaufgaben durch das Jugendamt durch negative Strukturbedingungen beeinträchtigt: programmatisch unklar und ohne präventive Perspektive, überspezialisiert und unterorganisiert (häufig ohne adäquate fachliche Team- und Kooperationsstrukturen), mit hohen Fallzahlen im allgemeinen Fallmanagement und mit eingeschränkten räumlichen und materiellen Möglichkeiten, produziert öffentliche Jugendhilfe geradezu strukturell fachliche Risiken, die die Qualität und Effektivität des Jugendamtes einschränken.

 

Wer dennoch die Aufgabe des Kinderschutzes, nach Lage der Dinge so verantwortlich wie möglich, wahrnehmen will, bedarf der kontinuierlichen Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung. Die hier entwickelte Berliner Verfahrenskonvention zur Qualitätssicherung in der Kinderschutzarbeit der öffentlichen Jugendhilfe (Berliner Standard) will dazu einen Beitrag leisten.

 

 

Frau Beate Galm

IKK      Informationszentrum Kindesmisshandlung/Kindesvernachlässigung

Deutsches Jugendinstitut e.V.

 

Psychologin

IKK: Schwerpunkt Kindesvernachlässigung

Betreuung und Beratung von Kindern, Jugendlichen und deren Eltern, die in Notunterkünften im Hasenbergl-Nord/München leben.

 

Ein Berührungspunkt mit dem Thema ASD und Kindeswohlgefährdung liegt in meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Referentin am DJI/IKK. Zuständig bin ich vor allem für den Bereich der Kindesvernachlässigung.  Ein Blick auf die Verbreitung und die Folgen von Kindesvernachlässigung sollte Anlass sein, dieser Problematik mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als dies in der öffentlichen Diskussion meist der Fall ist.

 

Mein anderer Berührungspunkt mit dem Thema ist vor allem praktischer Art: Ich arbeite seit langem mit Kindern, Jugendlichen und deren Eltern, die erheblichen familiären und sozialen Belastungen ausgesetzt sind. 

 

Den Fokus meines Statements möchte ich auf die Prävention von Kindesvernachlässigung  legen. Was ist hierbei zu bedenken?

 

Kindesvernachlässigung beginnt meist im Säuglings- oder Kleinkindalter, Entwicklungsphasen, in denen ein Kind in hohem Maße auf die adäquate Betreuung der Sorgeverantwortlichen angewiesen ist, sich selbst wenig helfen kann und von sich aus keine Hilfe in Anspruch nehmen kann.

Auch lassen sich Formen sozial-emotionaler und kognitiver Vernachlässigung nicht immer zweifelsfrei diagnostizieren.

Kinder, deren Misshandlung nicht deutlich zutage tritt, haben oft einen langen Leidensweg vor sich. Gehandelt wird in vielen Fällen erst, wenn ihre Probleme offensichtlich werden, sie etwa durch Schulversagen und unangepasstes Sozialverhalten auffallen. Folgen dann unzureichende Hilfen und stabilisieren sich zunehmend Fehlentwicklungen, werden geeignete Formen der Intervention sehr aufwendig, und ihr Erfolg lässt sich immer weniger gewährleisten. Darum ist es von großer Bedeutung, Vernachlässigung möglichst frühzeitig zu erkennen und adäquat zu handeln.

Manche Familien, die mit zahlreichen Risikofaktoren belastet sind und wenig Schutzfaktoren bieten, nehmen von sich aus keine Hilfe in Anspruch. Soziale Institutionen wecken bei ihnen Misstrauen und Angst vor Kontrolle. Auch sind sich vernachlässigende Eltern ihres vernachlässigenden Erziehungsstils oft nicht bewusst. Sie geben ihr Bestes. Für das Kind bedeutet dies trotzdem eine in hohem Maße defizitäre Entwicklung. Verhindert werden kann sie am ehesten durch aufsuchende Hilfeformen, die sich an der speziellen Lebenssituation der Familie ausrichten.

 

 Herr Prof. Dr. Schefold

Institut für pädagogische Praxis

Fakultät für Pädagogik,

Universität der Bundeswehr

85577 Neubiberg

 

Professur an der Fakultät für Pädagogik Universität Bundeswehr in München-Neubiberg

Forschungsgebiete in den letzten Jahren u.a. Hilfeprozesse, Hilfeplanverfahren, Entwicklung der Hilfen zur Erziehung; in diesem Zusammenhang praxisorientierte Projekte, u.a. mit der Landeshauptstadt München

 

Die Frage Was verbindet sich in bezug auf das Projekt mit dem Begriff Kindeswohlgefährdung verlangt mehrere Antworten

 

Erster Gedanke: Der ASD ist in der Praxis stark mit Kindeswohlgefährdungen befasst, dies freilich in einem weiteren Funktionsrahmen, den es zu berücksichtigen gilt. Der ASD ist in seiner Aufgabe als Bezirkssozialarbeit, wie immer dies lokal organisiert ist, die Präsenz des Sozialstaates in der Gesellschaft; er verkörpert die allgemeine, sozialräumlich organisierte  relativ unspezialisierte, von daher für unterschiedliche Bedarfs- und Problemlagen offene Anlaufstelle für Bedarfslagen und Probleme und wrid zugleich im Zuge der Flexibilsierung etwas der Hilfen zur Erziehung auch immer mehr Verteilstelle und case manager für mögliche Hilfen. Eine unter mehreren Aufgaben, die sehr sorgfältig und behutsam wahrgenommen werden will, ist dabei die Aufnahme und Abklärung von Anfragen und Ereignissen unter dem Aspekt einer realen oder drohenden Gefährdung des Wohls von Kindern. Der ASD als lokale Präsenz des Sozialstaates wird durch die Entwicklungen in der Kinder- und Jugendhilfe, durch eine gewisse Ökonomisierung, Marktorientierung, Flexibilisierung immer wichtiger; des ASD hat alte Traditionen im den Sozialraumorientierung, im Umgang mit Multibedarfs- und Multiproblemfamilien; sein Offenheit sollte bei aller Relevanz durch eine einseitige Berücksichtigung der Aufgaben, die mit dem Wächteramt in Zusammenhang stehen, nicht zurückgenommen oder gar gefährdet werden.

 

Zweiter Gedanke: Wenn man dies so sieht, dann macht es Sinn, die Beschäftigung mit  Kindeswohlgefährdungen mindestens auf zwei Ebenen anzugehen: also einmal eher die gegenstandsbezogene Ebene: man muss sich wirklich darum kümmern, was sich von Fall zu Fall hinter dem Konstrukt Kindeswohlgefährdung verbirgt. Dass dies  ohne dem radikalen Konstruktivismus anheimzufallen - immer ein Konstrukt ist, zeigen ja auch die Beiträge, die hier in den letzten zwei Stunden eingebracht wurden. Es gibt eine hohe Varianz in der Feststellung von Tatbeständen von Kindeswohlgefährdung, es gibt eine hohe Varianz von Theorien. Daneben gibt es natürlich auch den harten Kern an Gefährdungstatbeständen , den man nicht vergessen sollte, der sich z.B. mit den klassischen ASD-Familien verbindet.

 

Kindeswohlgefährdung  und das ist der zweite Aspekt  ist aber auch ein ganz wichtiger Bezugspunkt für die Orientierung von Fachkräften und für die Organisationsentwicklung im ASD. Dies ist nach meinen Erfahrungen durchaus ein problematischer Bezugspunkt, besser:  ein Bezugspunkt, den man problematisieren kann. Ich weiß nicht, ob es Sinn macht z.B. Fallaufnahmeverfahren von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des ASD  auf die Entdeckung von Gefährdungstatbeständen zu fokussieren und damit die Vermeidung des Übersehens von Gefährdungstatbeständen in den Mittelpunkt von Fallabklärungsprozessen zu rücken. Dabei entsteht die Gefahr, dass andere Aspekte,  wie z.B. die Orientierung an den Selbsthilfepotentialen oder Ressourcen von Adressatinnen zu kurz kommen. .Assessment- und Monitoring-Systeme, die stark risikoorientiert sind, haben den Nachteil, dass die normale Wirklichkeit für  Hilfen zur Erziehung und auch dafür ist ja der ASD auch die Anlaufstelle aus dem Blick geraten oder dass man diese normalen Wirklichkeiten eben dann über den Tatbestand der Gefährdung wahrnimmt und diskutiert.

Wenn man stark mit dem Gefährdungsbegriff  arbeitet, sollte man wirklich an die Fachkräfte, in die Organisation, in die Hilfeprozesse empirisch herangehen und genau rekonstruieren, was in den einzelnen Zusammenhängen dieser Topos Kindeswohlgefährdung bedeutet und wie er als Orientierungsbegriff im einzelnen gehandhabt wird. Dabei sind nicht nur die Bezüge auf die Familien und die Kinder, sondern auch die auf die Organisationen und das Handeln der Fachkräfte als Erwerbstätige wichtig, die mit ihren Überlastungen am Arbeitsplatz möglichst ohne individuell zurechenbare Risiken zurechtkommen wollen. Die Fixierung von Gefährdungen ist z.B. manchmal eine  wenn auch individuell gut nachvollziehbare  Strategie, Sicherheit im beruflichen Handeln zu erlangen und keine Fehler zu machen.

 

Dritter Gedanke: Das Handeln der ASD-MitarbeiterInnen geschieht ja meist unter den Bedingungen von unzureichendem Wissen über Fälle und Unsicherheit. Es gibt also immer Risiken. Wie wird mit diesen Risiken umgegangen? Zunächst : wessen Risiken sind es eigentlich, die Risiken des Kindes, der Familie, die Risiken der Fachkraft, die Risiken der Organisation, die Risiken des Oberbürgermeisters im nächsten Wahlkampf, um die es geht, die zu Buche schlagen? Das alles ist sorgsam auseinander zu nehmen, um die Frage realistisch beantworten zu können, wie eigentlich die Fachkräfte oder die Organisation eigentlich mit diesem Topos Kindeswohlgefährdung umgehen.

Es gibt im Rahmen der soziologischen Risikotheorie den Vorschlag einer Unterscheidung , die für das ASD-Projekt sehr fruchtbar wäre; die Benennung zweier Wege, wie man Risiken bewältigen kann: Disziplin und Versicherung. Disziplin bedeutet: ich verhalte mich so, dass ich jedes Risiko im Handeln selbst ausschliesse; Versicherung heisst, ich bin mir bewusst, dass ich Fehler machen kann, aber das System, in dem ich mich bewege, kann mir Gewähr dafür bieten, dass ich nicht allein die Risiken zu tragen habe, z.B. um meinen Arbeitsplatz komme. Dies geht in Richtung einer kollektiven Absicherung von Entscheidungen unter Unsicherheit. geben. Mir scheint, dass in der Praxis der erste Weg eher beschritten wird, z.b. in der Entwicklung der allgemeinen sozialen Dienste, und das belastet mit hohem Masse die Fachkräfte und bremst auch deren Fachlichkeit. Der zweite Weg ist  natürlich schwieriger, er schreibt der Organisation die Risikobewältigung; beinhaltet aber auch für die Kinder, die Familien gewisse Risiken. Dies als Hinweis darauf, dass der organisationsinterne oder politikinterne Umgang mit diesem ganzen Problem enorm wichtig ist:

 

Vierter Gedanke: Der Prozess der Fallabklärung scheint mir bei all den Fragen in der Praxis wie als Thema wissenschaftlicher Arbeit enorm wichtig zu sein. In dem vorliegenden Papier zum ASD-Projekt steht einiges über Falldokumentation und ähnliche Dinge, aber am Anfang steht da immer  die Erzeugung oder Übernahme des ersten Wissens um den Fall. Das ist die entscheidende Phase in der Bearbeitung und im Umgang mit Gefährdungsfällen. Wie kommen die Fachkräfte eigentlich zu ihrem Wissen und,  über dieses Wissen,  zu Sicherheiten, die ihnen weitreichende Interventionen als plausibel erscheinen lassen?

Das ist ein ganz spannender Prozess, den man m.E. nur fassen kann, wenn man in die Organisation reingeht, dann auch die Handlungsbedingungen der Fachkräfte in den Blick nimmt.

 

Ich denke, die Fachkräfte selbst sind stärker als die Organisation oder stärker vielleicht auch als das Netz von Organisation, also die Beziehung zur Polizei und Gerichten und stärker auch die Politik für mich die zentrale Stelle in der Entwicklung eines sozialstaatlich begründeten und fachlich kompetenten Umgangs mit dem Problem Kindeswohlgefährdung. Dabei schiebt sich m.E. die Frage einer eigenen sozialpädagogischen Diagnostik in den Vordergrund. Gerade, zur Abklärung von Kindeswohlgefährdungen gibt´s ja eine Fülle von Analyseinstrumenten und - manualen und Erinnerungslisten für die Fachkräfte; das ist oft nur  träges Wissen: Es wäre einfach mal zu genau zu betrachten,  was mit diesen Vorgaben und Instrumenten geschieht: In München, um ein Beispiel zu benennen, gibt es ein sehr elaboriertes Manual für die Behandlung von Gefährdungsfällen seitens des ASD, das nun im ASD auch implementiert und evaluiert wird.

 

Letzter Gedanke Bei jedem Projekt ist wichtig, sich zu vergewissern, was an Wissen schon da ist. Trotzdem: Ich halte gerade in diesem Projekt solide Forschung für unverzichtbar. Denn nicht alles, was gemeinsames Wissen ist, ist auch wahr. Und hier nochmals: Gerade angesichts der Komplexität, die sich mit den Fragestellungen des ASD-Projektes auftut, scheint mir - und das klingt ja an einigen Stellen der Projektpapiers deutlich  scheint mir fallorientierte Forschung unverzichtbar. Wir leben in einer Gesellschaft, in der man eigentlich die für Sozialoe Arbeit relevante Wirklichkeit nur noch von Seiten der Betroffenen, der Kinder und Jugendlichen und Familien in den Blick bekommt. Da ist auch eine gewisse Kühnheit in den empirischen Forschungsmethoden von Forschungsinstituten verlangt.

 

 

 

Frau Gisal Wnuk-Gette

Wengener Mühle Centrum

Wengen 1, 88410 Bad Wurzach

 

Familientherapeutin

Weiterbildung von Familienberatern und Familientherapeuten im Rahmen sozialer Dienste

Projekte zur Familienberatung im Ortenau Kreis und in Biberach

 

Ich denke, meine berufliche Biographie ist der wichtige Hintergrund, aus dem heraus ich mein Statement abgebe, das heisst also, viel Erfahrung mit konkreter sozialer Arbeit, aber unter diesem spezifischen Aspekt, dass wir tatsächlich Familienberatung machen und im Ortenau Kreis arbeiten wir mit ungefähr 70 Honorarkräften, und in Biberach mit ungefähr 50. Das heisst also, die Sozialen Dienste werden durch die entsprechenden Honorarkräfte,  Familientherapeuten oder Familienberater, ergänzt. Und so ist der Begriff der Kindeswohlgefährdung für mich geprägt durch die vielen Kolleginnen und Kollegen, die ich in den sozialen Diensten im Laufe dieser Lernzeit immer wieder erlebt habe. Was mich immer wieder überrascht und erstaunt, denn man könnte ja annehmen, dass da eine gewisse Einheitlichkeit herrscht, ist die Unterschiedlichkeit der Einschätzung von Gefährdungssituationen. Und das war auch das, was Herr Schattner vorhin schon sagte: ich könnte wirklich ganz verschiedene Situationen schildern, wo die gleiche Ausgangslage von fünf verschiedenen Kolleginnen und Kollegen ganz anders bewertet wird. Das heisst, die eine Kollegin rennt sofort los und holt das Kind raus, und die andere Kollegin sagt, in der nächsten Supervision können wir da Familienberatung installieren. Aber die Ausgangslage ist identisch. Und das ist das, was ich mir auch von diesem Expertengremium verspreche, weil uns dann in der Praxis natürlich nicht gelingt immer den Metastandpunkt einzunehmen, Kriterien zu haben, wann ist denn tatsächlich eine solche Gefährdung gegeben, dass ich sofort handeln muss oder wo ist diese Gefährdung nur ein Signal, dass wir natürlich handeln müssen, aber nicht in der Weise, dass wir in Obhut nehmen oder raus nehmen. Es zeigt sich bei uns in den verschiedenen Situationen, dass bei Kindern unter 3 Jahren die Gleicheinschätzung grösser ist, als bei Kindern über 3 Jahren. So vor allen Dingen bei Kindern bis zu 15, 18 Monaten ist man schneller in der Lage, sich gegenseitig zu sagen, das Kind ist gefährdet, wenn es nicht genügend ernährt wird, wenn es nicht ausreichend hygienisch versorgt wird, wenn es in irgend einer Weise misshandelt wird. Schon bei dem Punkt hygienische Versorgung klaffen die Unterschiede aber wieder auseinander: der eine Kollegin hält einen bestimmten Hygienezustand schon für gefährdend und meint, man müsste das Kind unbedingt aus diesem Kontext heraus holen, und die andere Kollegin sagt, dem Kind schadet das nicht. Wir hatten neulich die schöne Untersuchung gehört, dass die Kinder, die relativ viel mit Dreck in Berührung kommen, gesünder sind, das würde dann von einigen Kollegen sofort als Massstab genommen und gesagt, also gefährdet sind die eigentlich nicht, die sind nur gesünder als die anderen. Das heißt also, diese körperliche Kindeswohlgefährdung, vor allen im Säuglings-, Kleinkindalter, da kann man noch eine relativ eindeutige Kategorisierung vornehmen, die man dann auch operationalisieren kann. Viel schwieriger scheint mir die seelische Kindeswohlgefährdung einzuschätzen. Da ist es also immer wieder doch sehr abhängig von dem, was der einzelne Kollege/Kollegin von seinem Hintergrund mitbringt, und auch, wie seine eigenen Potentiale angesiedelt sind. Wir haben mehrere Fälle, wo Kolleginnen aus dem sozialen Dienst alle vier bis fünf Kinder unbedingt rausholen mit Polizeigewalt, weil in der Familie alles so schrecklich war. Es zeigte sich mithilfe von Familienberatung, dass alle fünf Kinder drin bleiben konnten. Man mußte natürlich ein paar Strukturen ändern, aber dieser Eilentscheid, die müssen jetzt alle raus und das ist ganz schrecklich, stellte sich bei näherem Hinsehen von zwei erfahrenen Familienberatern als übereilt heraus.  Diese Familie läuft im Moment sehr gut mit ihren fünf Kindern und ist überhaupt keine Frage von Gefährdung mehr. Das ist etwas, was wir immer wieder sehen und wo für mich auch solche Untersuchungen einfach spannend sein könnten, wie machen wir´s denn fest und wer macht es fest ? Wer benutzt dann die Kategorien ! Bei Gefährdungen, wie Missbrauch, Gewalt, die ja erstmal eindeutig scheinen, glaubt man ja noch schneller, als bei diesem groberen Begriff seelische Gefährdung zu wissen, wann eine Gefährdung vorliegt.  Auch dabei sehen wir immer Unterschiede, wir haben relativ viele Aussiedler-Familien,  viele Familien aus den ehemaligen Sowjet-Republiken in unseren Projekten, bei denen z.B.  Prügeln einfach zur Erziehung gehört. Und wo die Frage ist, ist das eine Gefährdung für die Kinder oder ist das in ihrem Kontext des Aufwachsens wirklich etwas, was für diese Kinder auch passt zu dem Kontext, und was vielleicht nicht mehr passt, weil die jetzt hier leben und die Kinder ringsrum nicht so geprügelt werden. Ich erinnere mich mit Schrecken an einen Fall, den wir für ein grosses Jugendamt beurteilen, begutachten mussten, wo vier Kinder von einer Familie rausgeholt wurden, weil sie verprügelt wurden und die Prügel waren von dieser Familie christlich motiviert. Das war eine christliche, eine alt-christliche Sekte, wo das Züchtigen dazu gehörte, und die Eltern verstanden die Welt nicht mehr, warum ihnen die Kinder weggenommen wurden. Ich denke, wir haben Schnittstellen, wo dann natürlich die Frage ist, ab wann ist es eine Gefährdung und wo ist es vielleicht im Kontext dieser Familien doch etwas, was für die Kinder nicht so schädlich ist, wie die Rausnehmen. Und wie kann ich - und da haben wir doch in den letzten 15 Jahren, seitdem unsere Projekten laufen, sehr gute Erfahrungen und Erfolge -, wie kann ich mit so einer Familie daran arbeiten, dass sie einerseits ihre Vorstellung von Erziehung nicht total aufgeben müssen und gleichzeitig aber sich bestimmten Grenzen, die wir einfach brauchen, damit wir sicher sind, den Kindern passiert nichts schlimmeres, aufrecht erhalten. Ja, für mich ist es, wie ich schon vorhin sagte, sehr spannend, was wir heraus finden werden als Expertenteam und wie dann solche Vorstellungen, die ja viel breiter getragen werden, z.B. auch in unseren kleinen Projekten vielleicht ganz andere Zugangsweisen möglich machen.